Option für mehr Gemeinsamkeit nach Trennung und Scheidung im Interesse des Kind

Keinesfalls kann davon die Rede sein, daß bei Inkrafttreten des Reformwerks automatisch das gemeinsame Sorgerecht bei Trennung und Scheidung fortbesteht. In der Berichterstattung einiger Medien und in Stellungnahmen von Politikern wurde mehrfach fälschlicherweise ein derartiger Eindruck erweckt.
Auch nach neuem Recht gilt weiterhin: Wenn es zum Streit - was bei einer Trennung gar nicht so selten sein dürfte - zwischen den Eltern wegen des Sorgerechts kommt, bleibt alles beim Alten. Einer stellt den Antrag auf alleinige Sorge, der andere hat das Nachsehen, denn gegen den Willen eines Elternteils gibt es auch nach den Bestimmungen des neuen Gesetzes kein gemeinsames Sorgerecht.
Wer aber kein Sorgerecht hat, ist auch nach neuem Recht rechtlos gegenüber dem eigenen Kind, ist weiterhin der Willkür des Sorgeberechtigten ausgesetzt.
* Der Sorgeberechtigte bestimmt ausschließlich über den Aufenthalt und das Vermögen des Kindes. Legt der Nichtsorgeberechtigte für sein Kind Geld an, so verfügt darüber der Sorgeberechtigte.
* Der Sorgeberechtigte kann Briefkontakte und Telefonate des nichtsorgeberechtigten Elternteils untersagen.
* Der Sorgeberechtigte kann ihm auch künftig verbieten, die Kinder vom Kindergarten oder von der Schule abzuholen.
* Der Nichtsorgeberechtigte darf sich auch künftig nicht bei Lehrern über die Leistungen seines Kindes informieren. Ob er das Zeugnis sieht, hängt auch weiterhin vom Wohlwollen des Sorgeberechtigten ab.
* Der Sorgeberechtigte kann den fest vereinbarten Besuchstermin kurzfristig absagen.
Das Umgangsrecht des nichtsorgeberechtigten Elternteils wird zwar durch das neue Gesetz gestärkt und als wichtig für eine gesunde Entwicklung des Kindes anerkannt. Allerdings braucht sich auch nach neuem Recht kein sorgeberechtigter Elternteil, der den Umgang mit miesen Tricks torpediert, vor "Strafe" zu fürchten. Das neue Recht sieht keine konkreten Sanktionen für Umgangsvereitelung vor.
Auch in anderer Hinsicht bleibt das neue Recht in eingefahrenen Geleisen: Trennung und Scheidung werden wie bisher fast ausschließlich mittels streitigen juristischen Verfahren "abgewickelt". Mediation - Vermittlung - wird nur zwischen den Zeilen erwähnt und nur empfohlen. Ja, es steht zu befürchten, daß sich die juristischen Verfahren noch verkomplizieren, weil im neuen Recht eine "dritte Partei", ein sogenannter "Anwalt des Kindes", vorgesehen ist. Der "Kampf ums Kind", den das neue Recht eigentlich entschärfen, ja eliminieren wollte, wird in streitigen Verfahren durch den "dritten Anwalt" eine neue Dimension bekommen.
Dennoch hält der Verband Unterhalt und Familienrecht (ISUV) die Reform für einen Schritt in die richtige Richtung, weil damit wahrscheinlich ein Bewußtseinsprozeß bei allen Betroffenen eingeleitet wird. Denn wichtiger als die neuen juristischen Regelungen wird der Bewußtseinsprozeß sein, der mit der Reform bei Richtern, Anwälten und Jugendämtern - hoffentlich - einhergeht. Der ISUV hofft, daß Richter, Anwälte, Gutachter, Jugendämter und natürlich die betroffenen Eltern sich für mehr Gemeinsamkeit nach Trennung und Scheidung im Interesse der Kinder engagieren werden.
Die Erfahrungen in Schweden zeigen, daß diese Hoffnung nicht unbegründet ist. Dort entschieden sich 1983 44 Prozent der Eltern für die Beibehaltung der gemeinsamen Sorge nach Trennung/Scheidung, 1989 waren es 76 Prozent und inzwischen sind es fast 85 Prozent. In Schweden wird gerade überlegt, ob das gemeinsame Sorgerecht nach der Trennung/Scheidung nicht als verbindlicher Regelfall eingeführt werden soll. - In Deutschland entscheiden sich heute 17 % der Eltern nach Trennung/Scheidung für das Fortbestehen der gemeinsamen Sorge. Josef Linsler