Unterhaltsrecht - BGH - 27.10.2021


1. Das Vorhandensein von für den Enkelunterhalt leistungsfähigen Großeltern führt dazu, dass sich die Leistungsfähigkeit der Eltern für den Kindesunterhalt allein nach § 1603 Abs. 1 BGB richtet und damit unter Berücksichtigung des sog. angemessenen Selbstbehalts zu ermitteln ist. Die gesteigerte Unterhaltspflicht des § 1603 Abs. 2 Satz 1 und 2 BGB mit der Reduzierung auf den sog. notwendigen Selbstbehalt greift dann nicht ein.

2. Der auf Unterhalt für sein minderjähriges Kind in Anspruch genommene Elternteil trägt die Darlegungs- und Beweislast für seine eigene Leistungsunfähigkeit und damit sowohl dafür, dass bei der begehrten Unterhaltszahlung sein angemessener Selbstbehalt nicht gewahrt wäre, als auch dafür, dass andere leistungsfähige Verwandte im Sinne des § 1603 Abs. 2 Satz 3 Halbsatz 1 BGB vorhanden sind.

Beschluss:
Gericht: BGH
Datum: 27.10.2021
Aktenzeichen: XII ZB 123/21
Leitparagraph: §§ 1601, 1603, 1606, 1607 BGB
Quelle: FamRZ 2022, Seite 180 ff.; NZFam 2022, Seite 15 ff.

Kommentierung:

Dieses Urteil befasst sich mit dem sogenannten Enkelunterhalt. In der Presse hat man den „Aufschrei“ gehört: „BGH nimmt Großeltern in die Pflicht“. Veröffentlichte Fälle zum Enkelunterhalt sind selten, da es auch nur seltene Fallkonstellationen gibt, in denen Großeltern in Anspruch genommen werden. Dies erklärt sich auch daraus, dass dem unterhaltsbedürftigen Enkel ein Sozialhilfeanspruch, ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder ein Unterhaltsvorschussanspruch zusteht. Der Bedarf des unterhaltsberechtigten Enkels wird durch öffentliche Sozialleistungen befriedigt. Der jeweilige Sozialhilfeträger kann jedoch den zivilrechtlichen Unterhaltsanspruch des Enkels gemäß § 94 Abs. 1 Satz 3 SGB XII nicht auf sich überleiten – anders beim Unterhaltsanspruch zwischen Kind und Elternteil bzw. beim sogenannten Elternunterhalt.

Im hier vorliegenden Fall hat ein Bundesland als Träger der Unterhaltsvorschusskasse gegenüber dem Vater eines unterhaltsberechtigten Kindes nach übergegangenem Recht (Teil-)Rückzahlung verlangt, mit dem Argument, er sei aufgrund eines Selbstbehalts von 1160 € (teil-)leistungsfähig. Der Vater hat eingewandt, dass er nur leistungsfähig sei oberhalb des sogenannten angemessenen Selbstbehalts in Höhe von 1400 €, ihn keine gesteigerte Unterhaltspflicht treffe, da zumindest ein leistungsfähiger Großelternteil vorhanden ist. Zwar geht die Unterhaltspflicht von Eltern gegenüber ihren Kindern derjenigen der Großeltern für ihre Enkel vor (§1606 Abs. 2 BGB), aber wenn der vorrangige Elternteil nicht leistungsfähig ist, greift die nachrangige Unterhaltspflicht von Großeltern. Der BGH hat nunmehr entschieden, dass dann, wenn leistungsfähige Großeltern vorhanden sin, die gesteigerte Unterhaltspflicht von Eltern für minderjährige Kinder entfällt und der Vater sich daher berechtigterweise auf den angemessenen Selbstbehalt von 1400 € berufen hat, nachdem die Großeltern Nettoeinkünfte von fast 3.500 € bzw. 2.200 € hatten. Großeltern haften insoweit gemäß § 1607 BGB. Der BGH führt weiter aus, dass die Ersatzhaftung der Großeltern weiterhin die Ausnahme darstellt. Dafür sorgt nicht nur die Anordnung des Vorrangs der elterlichen Unterhaltspflicht, sondern auch, dass Großeltern gegenüber ihren Enkeln ein deutlich höherer angemessener Selbstbehalt zusteht (derzeit 2000 € zzgl. der Hälfte des über 2000 € liegenden Einkommens). Dass der Staat für Unterhaltsvorschusszahlungen keinen Regress (§ 7 Abs. 1 Satz 1 UVG) bei Großeltern nehmen kann, ist eine ganz bewusste gesetzgeberische Entscheidung und ist nicht dafür maßgeblich, welchen Umfang die zivilrechtliche Unterhaltspflicht der Eltern hat. Zur Erinnerung: Hier ging es um den Rückforderungsanspruch der Unterhaltsvorschusskasse gegen den Vater.

Die Ersatzhaftung der Großeltern tritt somit nicht erst dann ein, wenn der notwendige Selbstbehalt der Eltern unterschritten wird, sondern sobald der angemessene Selbstbehalt des Elternteils gegenüber dem Kind unterschritten wird. Da der Unterhaltsbedarf des Kindes/Enkel sich immer nach den Lebensverhältnissen der Eltern richtet, wird bei leistungsunfähigen Eltern der Bedarf des Kindes auch gegenüber den Großeltern nicht über dem Mindestunterhalt liegen, selbst wenn die Großeltern in guten/sehr guten wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Grundsätzlich käme auch die betreuende Mutter als weitere leistungsfähige Verwandte in Betracht, wenn sie ausreichend Einkommen erzielen würde (BGH, FamRZ 2011, Seite 1041), der Vater hat jedoch im hiesigen Regressprozess nicht auf die Inanspruchnahme der Mutter verwiesen (unabhängig davon, dass auch das Einkommen der Mutter unterhalb des angemessenen Selbstbehalt gelegen hätte).

Dass ein Regress des Staates auch nach dem Unterhaltsvorschussgesetz nicht möglich ist, ist gleichlautend mit den bereits oben genannten sozialhilferechtlichen Ansprüchen. Bereits seit 1974 geht das Sozialhilferecht davon aus, dass die Belastung entfernterer Verwandter nicht sachgemäß ist. Im Unterhaltsrecht geht/ging man davon aus, dass eine Unterhaltspflicht von Großeltern dann besteht (nachrangig), wenn der Selbstbehalt des Elternunterhaltes (2000 € zzgl. der Hälfte des über 2000 € liegenden Einkommens) überschritten ist. Diese Zahlen stammen aus der Rechtsprechung und den unterhaltsrechtlichen Leitlinien zum sogenannten Elternunterhalt, bevor das Angehörigenentlastungsgesetz in Kraft getreten ist. Seitdem finden sich diese Zahlen zum Selbstbehalt von Eltern nur noch in wenigen Leitlinien, es wird für die Bemessung eines angemessenen Selbstbehaltes auf Zweck- und Rechtsgedanken des Angehörigenentlastungsgesetztes verwiesen, was wohl dazu führt, dass die Ersatzhaftung der Großelterngeneration möglicherweise zum Auslaufmodell wird (so berechtigterweise Schürmann, FamRZ 2022, Seite 185). Der BGH sagt hierzu bedauerlicherweise gar nichts. Aber, wie gesagt, es ist zu trennen zwischen dem zivilrechtlichen Unterhaltsanspruch und der Frage, ob sich ein Elternteil auf den angemessenen Selbstbehalt berufen kann und dem nicht bestehenden sozialhilferechtlichen Regressanspruch gegenüber Großeltern.