EU-rechtswidrige Aussetzung rechtskräftiger Entscheidung über Rückgabe entführten Kindes

Fragen zur elterlichen Sorge, zu Umgang im Rahmen von Trennung und Scheidung sollen vorrangig und insbesondere schnell entschieden werden, so dass durch die Zeit nicht Fakten geschaffen werden können, die dem Kindeswohl widersprechen.

Es ver­stö­ßt gegen EU-Recht, wenn na­tio­na­le Stel­len ohne Be­grün­dung die Aus­set­zung einer rechts­kräf­ti­gen Ent­schei­dung über die Rück­ga­be eines ent­führ­ten Kin­des er­wir­ken kön­nen. Dies stellt der Eu­ro­päi­sche Ge­richts­hof (EuGH, Urteil vom 16.02.2023 - C-638/22) klar. Das für den Er­lass einer Rück­ga­be­ent­schei­dung gel­ten­de Gebot der Wirk­sam­keit und der Be­schleu­ni­gung gelte auch im Rah­men der Voll­stre­ckung einer sol­chen Ent­schei­dung.

Hintergrund

Der EuGH-Entscheidung liegt ein Fall aus Polen zugrunde. Eine polnische Mutter beabsichtigte, mit ihren beiden in Irland geborenen und aufgewachsenen Kindern im Anschluss an Ferien in Polen dauerhaft im Land zu bleiben. Der Vater, der einer dauerhaften Verbringung nicht zugestimmt hatte, beantragte bei den polnischen Gerichten die Rückgabe seiner Kinder. Nachdem die Rückgabeentscheidung vollstreckbar geworden war, beantragten der Generalstaatsanwalt und der Beauftragte für Kinderrechte die Aussetzung ihrer Vollstreckung.

Polnische Sonderregelung

Seit 2022 ermöglicht es die polnische Zivilprozessordnung dem Generalstaatsanwalt, dem Beauftragten für Kinderrechte und dem Beauftragten für Bürgerrechte, die Aussetzung der Vollstreckung einer rechtskräftigen Rückgabeentscheidung auf der Grundlage des Haager Übereinkommens ohne Begründung zu erwirken. Der Antrag führt zu einer Aussetzung der Vollstreckung für einen Zeitraum von zwei Monaten. Zudem wird die Aussetzung, wenn die genannten Stellen eine Kassationsbeschwerde gegen eine Rückgabeentscheidung einlegen, von Rechts wegen bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem Obersten Gericht verlängert. Im Übrigen kann, selbst wenn die Kassationsbeschwerde zurückgewiesen wird, im Rahmen eines außerordentlichen Rechtsbehelfs erneut eine Aussetzung erwirkt werden.

Grundsatzfrage: Vereinbarkeit mit EU-Recht

Das Berufungsgericht hat Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit einer solchen Aussetzung mit dem in der Brüssel-IIa-Verordnung vorgesehenen Beschleunigungsgebot. Da die Aussetzung von Stellen beantragt werden kann, bei denen es sich nicht um Gerichte handelt, und die Ausübung dieser Befugnis keiner gerichtlichen Kontrolle unterliegt, möchte das polnische Gericht zudem wissen, ob die fraglichen Rechtsvorschriften mit dem in der EU-Grundrechte-Charta verankerten Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vereinbar sind.

Entscheidend: Beschleunigungsgebot

Der EuGH führt zunächst aus, dass sowohl für den Erlass einer Rückgabeentscheidung als auch für deren Vollstreckung das Gebot der Wirksamkeit und der Beschleunigung gelte. Die vom polnischen Gesetzgeber erlassene Regelung sei geeignet, die praktische Wirksamkeit der Brüssel-IIa-Verordnung zu beeinträchtigen. Eine ursprüngliche Aussetzung für eine Dauer von zwei Monaten überschreite schon für sich genommen die Frist, innerhalb der die Rückgabeentscheidung nach dieser Verordnung erlassen werden muss. Da die Stellen, die die Aussetzung beantragen können, ihren Antrag nicht begründen müssen und die Ausübung der entsprechenden Befugnis keinerlei gerichtlichen Kontrolle unterliegt, werde mit den fraglichen Rechtsvorschriften zudem nicht sichergestellt, dass die Rückgabe des Kindes an den Ort seines gewöhnlichen Aufenthalts nur in besonderen, außergewöhnlichen und ordnungsgemäß begründeten Fällen ausgesetzt werden kann.

Der EUGH hebt hervor: Das Unionsrecht verpflichte die Mitgliedstaaten nicht, einen zusätzlichen Rechtszug gegen eine Rückgabeentscheidung vorzusehen. Erst recht ermögliche es das Unionsrecht den Mitgliedstaaten nicht, die gegen eine solche Entscheidung eingelegten Rechtsbehelfe von Rechts wegen mit einer aufschiebenden Wirkung zu versehen, wie sie in den fraglichen polnischen Rechtsvorschriften vorgesehen ist.

Der EUGH hebt das Beschleunigungsgebot hervor, nennt eine Frist von zwei Monaten als zu lang. Mitglieder melden recht häufig, dass das Beschleunigungsgebot bei Sorge- und Umgangsrechtsfragen nicht eingehalten wird. Insbesondere bei Gutachten wird vielfach sträflich gegen das Beschleunigungsgebot verstoßen.

Quelle: beck-aktuell