Gut zu wissen und auf Umsetzung drängen: Menschenwürde – Handlungsfreiheit ernstnehmen – die letzte Freiheit ermöglichen

Goethe sprach von der „letzten Freiheit“ in seinem berühmten Roman „Die Leiden des jungen Werther“. Sein Held ist in einer ausweglosen psychischen Lage, möchte nicht mehr leben. Er erschießt sich, weil ihm der Freitod alternativlos erscheint. Die christliche Orthodoxie, das pietistisch selbstzufriedene Bürgertum ist empört über Goethes Rechtfertigung des Freitods.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit einem bahnbrechenden Urteil für Hoffnung auf Rechtssicherheit bei Sterbewilligen, Ärztinnen und Ärzten sowie Sterbehilfevereinen gesorgt. Dieses Urteil greift grundsätzliche Fragen von Menschenwürde und Handlungsfreiheit auf und stellt die Autonomie des Menschen in den Mittelpunkt, abgeleitet aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs 1 GG. "Die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben ist vielmehr unmittelbarer Ausdruck der der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung; sie ist, wenngleich letzter, Ausdruck von Würde." Und die Entscheidung "des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren." Die Strafrechtsnorm des § 217 StGB verenge dieses Recht so sehr, dass dem Einzelnen praktisch keine Möglichkeit mehr bleibe, diese Freiheit wahrzunehmen. – Das ist klar und dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

So progressiv das Urteil des BVerfG auch ausfällt, es kommt leider wie immer auf die Umsetzung an. Es kommt dann in die Mühlen der ethisch berufenen Politiker/innen und des Ethikrates. Es besteht die Gefahr, dass es dort zerredet und weichgespült wird. Wenn man das Grundgesetz und Menschenwürde ernst nimmt, so hat jedes Individuum seine persönliche „individuelle Ethik“. Die gilt es zu respektieren. Das BVerfG hat zwar betont, dass der Gesetzgeber Suizidhilfe durchaus regulieren dürfe, aber eben nur im Rahmen der von ihm ausbuchstabierten Autonomie. Dem Gesetzgeber stehe "in Bezug auf das Phänomen organisierter Suizidhilfe ein breites Spektrum an Möglichkeiten offen". – Wie auch immer, jeder Mensch muss selbstbestimmt entscheiden können – ohne wie auch immer geartete „Hindernisse“.  

Der Wunsch nach einer schmerzfreien Selbsttötung, jenseits harter Methoden wie Erhängen, sich vor den Zug werfen, von der Brücke stürzen oder erschießen, ist gerade in einer Welt, in der  Menschen immer älter werden, wichtig und von vielen gewünscht. Statistiken zu Folge wurden im Jahr 2019 45 Prozent aller Suizide durch Erhängen realisiert. Dabei gilt es auch an die Hinterbliebenen zu denken: Nicht selten finden Familienmitglieder ihre Angehörigen in diesem schlimmen Zustand vor – ein Anblick, den sie ihr Leben nicht mehr vergessen können. Laut Statistik finden die meisten Suizide zu Hause statt.

Es geht um ein gesamtgesellschaftliches Thema, das hat gezeigt und zeigt die Pandemie. Es muss dringend diskutiert werden, weil es in einer stets älter werdenden Gesellschaft große Bedeutung hat. Es darf nicht weiter aufgeschoben und zerredet werden. Es gibt viele Menschen, die nicht zu Tode gepflegt werden wollen, die nicht auf einer Intensivstation sterben wollen, die eine tödliche Krankheit nicht bis zum bitteren Ende erleiden wollen. Der Gesetzgeber muss endlich, jedem Menschen seine Selbstbestimmung über „seinen“ würdevollen Tod ermöglichen. Religiöse Vorstellungen dürfen nicht der Maßstab für alle Bürger sein.

Jeder Bürger muss sich ein Medikament beschaffen können, um selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden. Freitod darf nicht mehr ein Privileg von gutsituierten Menschen sein, die sich in der Schweiz oder in Belgien „ihren“ Freitod erkaufen können. Der Tod ist nur für wenige Menschen das Problem, vielmehr ist das Problem vieler Menschen, wie man ausweglos-zwanghaft und würdelos zu Tode „gepflegt“ wird und es sich einfach über sich ergehen lassen muss, weil man sich nicht mehr selbst helfen kann.