Kindesunterhalt 2023: „Mögliche Sozialleistungen im Blick behalten“ – Weg aus Trennungs- und Scheidungsarmut
Durch die Anhebung des Selbstbehalts und des Kindesunterhalts sind zigtausende unterhaltspflichtiger Väter und Mütter mit zwei und mehr Kindern – teils sogar schon mit einem Kind - nicht mehr in der Lage, den geforderten Kindesunterhalt zu zahlen. Wie können Sie sich aus der sozialen Notlage befreien?
Wenn der in der Düsseldorfer Tabelle 2023 geforderte Unterhalt nicht gezahlt werden kann, spricht man von „Mangelfällen“. Die Anfragen von „Mangelfällen“ beim Interessenverband Unterhalt und Familienrecht (ISUV) häufen sich außergewöhnlich stark.
„Jedem Kind steht der Mindestunterhalt und die Betreuung durch beide Eltern zu. Können diese Leistungen aus finanziellen Gründen von den Eltern nicht erbracht werden, muss der Staat mit Sozialleistungen einspringen“, fordert die ISUV-Vorsitzende Melanie Ulbrich.
Trennungseltern sollten immer berücksichtigen: „Einkommen vermehrt sich nicht, auch wenn man noch so heftig darum streitet. Im Interesse nicht zuletzt der Kinder rate ich dringend einvernehmlich und empathisch vorhandenes Einkommen angemessen aufzuteilen und mögliche Sozialleistungen im Blick zu behalten.“
Wer ist betroffen?
Bisher waren dies Unterhaltspflichtige der Einkommensgruppen 1 und 2, also Menschen mit einem Netto-Monatseinkommen bis 2300 EURO. Jetzt stellen wir fest, dass auch Unterhaltspflichtige der Einkommensgruppen 3 und 4, also Unterhaltspflichtige aus der Mittelschicht mit Monatseinkommen bis 3100 EURO immer näher an den Selbstbehalt, ans Bürgergeld heranrücken.
Fall eines Mitglieds
Der Fall veranschaulicht exemplarisch, das Unterhaltspflichtige mit stabilem Einkommen in prekäre Lage kommen können.
„Ich leiste Kindesunterhalt bisher im friedlichen Einvernehmen mit der Kindsmutter, orientiert an der Düsseldorfer Tabelle. Eine gerichtliche Festsetzung erfolgte nicht, war bisher nicht nötig und soll auch nie nötig werden. Nach den gewohnten Steigerungen der letzten Jahre bin ich nun erschrocken, als ich die neue Düsseldorfer Tabelle ab dem 01.01.23 las. Trotz deutlicher Erhöhung des Kindergeldes, das ja für sich betrachtet - jedenfalls zur Hälfte - schon den Kindern zugutekommt, wurden die Unterhaltssätze in außergewöhnlich hohem Umfang erhöht. Selbstverständlich bin ich subjektiv betroffen, halte aber das Niveau insgesamt objektiv nicht mehr für verhältnismäßig.
Für mich persönlich ist es eine Kraftanstrengung, neben den Unterhaltszahlungen für meine Kinder, die ich in voller Höhe leiste, auch noch für meine Stieftochter mitzuzahlen, weil der Vater nicht voll zahlen kann. Ich sehe mich nicht in der Lage, die Erhöhung ab dem 01.01. zu tragen. Bei einem Nettoeinkommen von knapp 2.750 EUR muss ich mehr als 1.000 EUR Unterhalt bezahlen. Somit liege ich nur unwesentlich über dem Selbstbehalt trotz Vollzeitbeschäftigung. Nun sehe ich die Gefahr, dass ich mit der Mutter meiner Kinder doch vor Gericht gehen muss um weniger Unterhalt zahlen zu müssen. Es kann doch nicht gewollt sein, dass gütliche Arrangements zwischen den Eltern wegen überhöhter unrealistischer Forderungen scheitern.“
Unterschreiten des Bedarfskontrollbetrages
Im Fall des Betroffenen ist der Bedarfskontrollbetrag laut Düsseldorfer Tabelle 1850 EURO, ihm bleiben nach Abzug des Kindesunterhalts aber nur 1745. Der Bedarfskontrollbetrag soll eine gleichmäßige Einkommensverteilung zwischen den beiden Haushalten der Trennungseltern sichern. Beim Betroffenen ist der Bedarfskontrollbetrag um 105 EURO unterschritten.
Familiengerichte berücksichtigen dies, indem sie den Kindesunterhalt in die nächst niedrigere Einkommensgruppe abstufen. Im konkreten Fall müsste der Vater 50 EURO im Monat weniger zahlen.- Ist ihm damit geholfen? Aus unterhaltsrechtlicher kann er möglicherweise wegen hoher Wohn- und Umgangskosten auf Anhebung des Selbstbehaltes klagen, allerdings mit ungewissem Ausgang. „Es entstehen zuerst einmal Gerichts- und Anwaltskosten, Trennungseltern scheuen den Gang zum Gericht“, stellt Ulbrich immer wieder fest.
Unterhaltsrecht oder Sozialrecht?
Daher rät Fachanwalt für Familien- und Sozialrecht Manfred Hanesch grundsätzlich: „Bei beengten finanziellen Verhältnissen sollte immer überlegt werden, ob der Mandant auf der unterhaltsrechtlichen oder sozialrechtlichen Schiene besser fährt.“ Diese Weichenstellung hängt von der Höhe des nach Abzug des Unterhalts verfügbaren Einkommens ab. Das Resteinkommen kann unterhalb des Selbstbehalts liegen, ist jedoch dann immer noch höher als die Grenze zur Bedürftigkeit und damit des Bürgergeldbezugs.
Konkret heißt das, wenn der Selbstbehalt bei € 1.370,00 liegt, der Unterhaltspflichtige nach Abzug des Unterhalts nur noch € 1.350,00 zur Verfügung hat und der Bedarfssatz bei € 1.320,00 inklusive Regelsatz, Unterkunftskosten und Mehrbedarf liegt, wie dies beispielsweise in Darmstadt der Fall ist. Liegt das Einkommen über der Bedürftigkeitsgrenze, so steht dem Unterhaltspflichtigen Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz zu.
Ist das Einkommen niedriger, so kann die Hilfe nach § 11 b Abs.1 Nr. 7 Sozialgesetzbuch II beantragt werden. Das Jobcenter zahlt dann pauschal die angemessenen Unterkunftskosten. „Erforderlich ist neben dem Antrag der Nachweis der regelmäßigen Unterhaltszahlung und die Vorlage eines Unterhaltstitels in Form eines Gerichtsbeschlusses, einer notariellen Vereinbarung über den Unterhalt oder die Vorlage einer Jugendamtsurkunde“, betont Hanesch.
Im Fall unseres Mitglieds gilt es also zu prüfen, ob möglicherweise Wohngeld beansprucht werden kann, wie oft die Kinder im Haushalt des Vaters leben und von ihm versorgt werden. Zudem sollten ergänzende Leistungen für das Stiefkind geltend gemacht werden, möglicherweise Unterhaltsvorschuss.
Temporäre Bedarfsgemeinschaft
„Bei beengten finanziellen Verhältnissen, in den Einkommensgruppen 1 - 3 sollte immer geprüft werden, ob nicht eine temporäre Bedarfsgemeinschaft vorliegt“, fordert ISUV-Sozialrechtscoach Gordon Vett. Eine temporäre Bedarfsgemeinschaft liegt nach Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) immer dann vor, wenn sich das Kind oder die Kinder pro Kalendertag mehr als 12 Stunden im Haushalt eines Elternteils aufhalten. Der betreffende Elternteil erhält dann pro Kind …. EURO.
Vett hebt hervor: „In der Praxis hilft das Eltern die Kinder gemeinsam zu betreuen, fördert die gemeinsame elterliche Sorge. Es hat sich gezeigt, dass so auch aufreibende Prozesse vermieden werden können.“
Wer Leistungen im Rahmen einer temporären Bedarfsgemeinschaft beantragt, muss viele Formulare ausfüllen, erhält Nachfragen vom Jobcenter, muss selbst nachfragen, muss Geduld mitbringen, muss seine Verhältnisse offenlegen. „Unterhaltspflichtige resignieren da schnell, verstehen die Formulare nicht, haben Angst, den Haken an der falschen Stelle zu setzen“, weiß Vett.
Unterstützung von ISUV
Dafür bietet ISUV Betroffenen Hilfe an. Es steht ein Sozialrechts-Team bereit, das mit Betroffenen auslotet, ob sich ein Antrag lohnt. Ist dies der Fall, kann bei Antragstellung unterstützt werden.
Betroffene können sich per Mail hilfesozialrecht(at)isuv(dot)de an den Verband wenden, Sozialrechtscoach Gordon Vett kann direkt kontaktiert werden: 0177/4743661, Mo. bis Do. 9.00 – 16.00 Uhr. Weitere Informationen zu sozialrechtlichen Angelegenheiten finden Sie außerdem HIER.
Für die ISUV-Vorsitzende ist dies ein zentrales Anliegen: „Gemeinsame Betreuung darf nicht am Geld scheitern. Es geht darum, unterhaltspflichtige Mütter und Väter, die vollerwerbstätig sind, Kinder mitbetreuen, darin zu bestärken, sozialrechtliche Leistungen in Anspruch zu nehmen, die sie sich verdient haben.“