Trennungsgrund: Narzissmus

Oft hören wir beim ISUV-Coaching, bei Gesprächen mit Paaren und einzelnen Partnern: „Mein Mann ist ein Narzisst.“ Diesen Satz gibt es auch in umgekehrter Version: „Meine Frau ist eine Narzisstin.“ Diese Behauptung soll gleichsam die Erklärung für das Scheitern der Partnerschaft, Ehe, Beziehung sein. Ein zentraler Grund für Trennung oder Scheidung.

Machen sich Betroffene es damit nicht zu leicht? Was ist Narzissmus, handelt es sich tatsächlich um eine Persönlichkeitsstörung? „ Liebe deinen nächsten wie dich selbst“, lautet ein zentraler Satz in der Bibel. Was ist gesunde Eigenliebe, wo fängt Narzissmus an?

 

Inhaltsverzeichnis

  • Vorwort
  • Merkmal & Etikette Narzissmus
  • Narzissmus ist ein weites und subjektives Feld
  • Narzissmus unter Gendergesichtspunkten
    • Phänomen weiblicher Narzissmus: Kriterien zur Diagnose für alle
    • Phänomen männlicher Narzissmus: Definiert „am Puls der Zeit“
  • Narzissmus als „anerkanntes Krankheitsbild“
    • Diagnostische Kriterien für Narzissmus im DSM-5
    • Die Subtypen des Narzissmus

  • Diagnose Narzisst oder Narzisstin im Sorgerechtsstreit
  • Trennung von „einem Narzissten“: Mit verunsicherten Menschen Geschäfte machen
  • Was am Ende wirklich bleibt: Narzissmus ein Fass ohne Boden

 

Vorwort

„Mach doch mal Narzissmus zum Titelthema in der nächsten Ausgabe des ISUV-Reports“, hatte mich ein Kontaktstellenleiter aufgefordert. „Ich höre fast in jedem zweiten Gespräch, dass Narzissmus der Grund für das Scheitern der Beziehung sein soll. Wenn ich nachfrage, dann kommen nur allgemeine Aussagen, statt Narzisst kann man auch Egoist einsetzen“, meinte besagter Kontaktstellenleiter.



In der letzten Ausgabe unserer Verbandszeitschrift "ISUV-Report" hatten wir dazu aufgerufen, uns mitzuteilen: „Haben Sie Erfahrungen mit narzisstischen Menschen gemacht? Woran haben Sie erkannt, dass sie narzisstisch sind? Hat Ihnen ein Psychologe zur Erkenntnis verholfen? “ Wenn im ISUV-Report Aufrufe stehen, Erfahrungen und Betroffenheit mitzuteilen, erreichen uns einige Statements oder Fallschilderungen. Das war diesmal anders: Wir erhielten von sieben Mitgliedern – sechs weiblich, einer männlich – jeweils einen Buchtitel, jeweils fast mit dem identischen Vermerk: „Das müssen Sie lesen, das Buch kann ich zum Thema empfehlen.“



Ein Titelthema und ein entsprechender Leitartikel kann nicht aus sieben Buchrezensionen bestehen. Wir haben alle sieben Titel zumindest angelesen. Es fiel auf, dass man sich jeweils „in die Hände und ins Bewusstsein“ des jeweiligen Autors, der jeweiligen Autorin begeben muss. Man an sie/ihn „glauben“ muss, um sich mit den dort gebotenen – zugegebener Maßen vielfach interessanten - Beobachtungen, Erklärungen, Informationen, Meinungen, Wertungen zu identifizieren. 


Trennung & Scheidung ein Fass ohne Boden“ lautet ein ISUV-Thema. Der Schreiber dieses Leitartikels merkte bei den Recherchen schnell: „Narzissmus ein Fass ohne Boden“. Im Leitartikel wird kritisch versucht dem Narzissmus einen „Boden“ einzuziehen.

Merkmal & Etikette Narzissmus


Gibt man den Begriff „Narzissmus“ bei Google ein, so erhält man ungefähr 2.680.000 Ergebnisse. Prominente, denen man einen Hang dazu nachsagt, sind US-Präsident Donald Trump, Rapper Kanye West, Fußballer Cristiano Ronaldo und jetzt insbesondere Wladimir Putin. Doch längst nicht jeder, der großspurig auftritt, ist deswegen gleich krank.



In der Persönlichkeitspsychologie versteht man unter Narzissmus ein Merkmal, das wie Körpergröße oder Intelligenz in der Bevölkerung normalverteilt ist. Die meisten Menschen bewegen sich im Mittelfeld, sehr hohe und sehr niedrige Ausprägungen kommen selten vor. Natürlich kommt es immer darauf an, wie man Narzissmus misst und welche Kriterien man heranzieht. 


Narzissmus ist aber auch eine Etikette. Ein Raster, das man gerne auf mächtige Menschen fokussiert, deren Verhalten man kritisiert oder gänzlich ablehnt, die man verachtet. Googelt man nach „Putin Narzissmus“ so spukt Google ungefähr 1.230.000 Ergebnisse aus. Karl Lauterbach hat aus der Ferne Putin als Narzissten diagnostiziert. Googelt man nach „Trump Narzissmus“ so erhält man immerhin ungefähr 513.000 Ergebnisse. Putin liegt also klar vorne im Ranking der aus der Ferne diagnostizierten Narzissten. Allerdings stammt die Diagnose Narzisst bei Trump aus der „Nähe“, aus der Familie. Trump wurde von seiner Nichte als Narzisst bezeichnet. In ihrem Buch „Zu viel und nie genug: Wie meine Familie den gefährlichsten Mann der Welt erschuf“ nennt sie Trump einen „verlogenen und kaltherzigen Narzissten“. 


Was aber hat man erreicht, wenn man einen Menschen, seinen Ehemann, seine Ehefrau als Narzissten etikettiert? Es kann vielfache Auswirkungen haben, nicht zuletzt auch im Zusammenhang von Trennung und Scheidung.

Narzissmus ist ein weites und subjektives Feld


In nahezu allen Definitionen wird darauf abgestellt: Wenn Menschen sich sehr selbstverliebt präsentieren und Fehler immer bei anderen anstatt bei sich selbst suchen, wird dieses Verhalten schnell oder gar vorschnell mit "Narzissmus" assoziiert. Es bedarf aber noch einer Steigerung: Die narzisstische Persönlichkeit hat ein extremes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Anerkennung, Bewunderung. Derartige Menschen reden eigentlich nur von sich, aber sie sind sich dessen nicht bewusst.

Von „narzisstischer Persönlichkeitsstörung“ wird dann gesprochen, wenn Menschen ein „tiefgreifendes Muster von Großartigkeit“ in ihrem Verhalten zur schaustellen oder auch in ihren Fantasien ausleben. Sie haben ein durchgehendes Bedürfnis nach Bewunderung und einen Mangel an Einfühlungsvermögen in andere. Personen mit dieser Störung legen ein „übertriebenes Selbstwertgefühl“ an den Tag. Narzissmus ist allerdings eine Persönlichkeitsstörung, die von schweren Minderwertigkeitskomplexen und einem drastischen Mangel an Selbstbewusstsein ausgelöst wird.

Darunter kann man sich viel vorstellen. Es bleibt jedoch dem subjektiven Auge, dem subjektiven Erleben des einzelnen Menschen vorbehalten, ob er das Verhalten seines Gegenübers als narzisstisch, normal oder gar als krank empfindet.

Narzissmus unter Gendergesichtspunkten


Es liegt im Trend, Narzissmus unter Gendergesichtspunkten zu betrachten. Auch wenn Sigmund Freud Frauen noch für das eitlere Geschlecht hielt – heute gilt der Narzissmus als typisch männliche Charaktereigenschaft.

Festzuhalten bleibt: Grundsätzlich können sowohl Männer als auch Frauen eine narzisstische Persönlichkeitsstörung entwickeln. Die Ursachen sind bei beiden die gleichen: mangelndes Selbstwertgefühl, Minderwertigkeit, krankhafte Selbstzweifel, Selbstkritik, extremer Leistungsdruck, Fixierung auf Materielles und auf Status.

Status quo heute: Männer sind in Sachen Narzissmus in der Mehrheit, so zumindest die einheitliche Meinung der „Diagnostiker Branche“. Unter Coaches, Mediatoren und Psychologen - in der überwiegenden Zahl weiblich -  ist die Meinung weit verbreitet, weiblicher Narzissmus wird oft schwerer erkannt.

Selbstzweifel, Perfektionismus, Bescheidenheit sollen die hervorstechenden Eigenschaften des weiblichen Narzissmus sein, der sich entsprechend anders  äußert. Man möchte fast meinen, es soll suggeriert werden, weiblicher Narzissmus ist „sympathischer“ aber in jedem Fall weniger „gefährlich“ als männlicher.

Hat man sich auf eine Erklärung eingelassen, dann entdeckt man gleich wieder die Relativierung einiger Narzissmus-Diagnostiker: Es kann durchaus auch Männer geben, die einen weiblichen Narzissmus entwickeln und umgekehrt. Was heißt das denn: Narzissmus divers?

Beispielsweise ein weiteres Gender-Axiom: Während Männer Mängel und Unsicherheiten in der Regel eher überspielen, indem sie zum Beispiel mit Statussymbolen prahlen, andere verspotten oder ihre Mitmenschen durch ihr Verhalten kleinmachen, reagieren Frauen tendenziell anders. Etwa mit einem verstärkten Streben nach Anerkennung und positivem Feedback. Sorry Narzissmus-Fachpersonal, das Selbstbewusstsein aufpolieren wollen doch Beide – oder? Die Methode, wie Frauen das angeblich bewerkstelligen, mag für manche Menschen sympathischer sein.

Mit den angeblich typisch weiblich-narzisstischen Verhaltensweisen befasst sich schon seit Jahren die Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki. In ihrem Buch "Weiblicher Narzissmus: Der Hunger nach Anerkennung"  beschreibt sie, wie sehr Frauen unter dieser Störung leiden. Aber auch, wie sie den Teufelskreis aus mangelndem Selbstwertgefühl und Fixierung auf Feedback von anderen durchbrechen können. Narzissmus ist also heilbar.

Phänomen weiblicher Narzissmus: Kriterien zur Diagnose für alle

Das Massenphänomen Narzissmus – oder ist es gar ein Phantom der Gegenwart – lebt davon, dass es in den Medien (insbesondere in den Sozialen Medien, einfach mal bei YouTube den Begriff Narzissmus eingeben) zum Dauerbrenner geworden ist. Aufmerksamkeit heischend schon die Titel der Videos: „Narzissmus: Der Feind in deinem Bett“, „Das verrät Narzissten“, „Narzissmus die dunkle Triade“, „Fünf Typen hochtoxischer Narzisstinnen entlarvt“.

Die meistgelesene Grundaussage der Diagnostiker/innen: Weiblicher Narzissmus ist schwer zu erkennen. Folgende Merkmale werden genannt – oft werden die gleichen Merkmale mit anderen Worten wiederholt. Teils im Boulevardstil, teils mit wissenschaftlichem Anstrich. Hörer und Leser werden überwiegend geduzt. Es geht um Anbiederung, weniger um sachliche Information. Je nach charakterlicher und psychischer Disposition auch um Manipulation.

  • Narzisstinnen bzw. weibliche Narzissten sind oft krankhafte Perfektionisten. Denn je "perfekter" ein Mensch, umso wertvoller, glauben sie ...
  • Stilsicher, top gestylt und immer im Trend – so versuchen weibliche Narzissten Bewunderung und Aufmerksamkeit zu erhalten.
  • Beherrscht, stets bestmöglich vorbereitet und eine präzise Ausdrucksweise – ein starker Auftritt ist in den Augen einer Narzisstin die Voraussetzung für Anerkennung. Dazu gehört auch eine besondere Fassade, um dahinter sämtliche Unsicherheiten zu verstecken ...
  • Weibliche Narzissten geben sich niemals mit dem Durchschnitt zufrieden, sie wollen hoch hinaus. Vor allem von sich selbst erwarten sie daher nicht nur Perfektion, sondern auch Höchstleistung.
  • Auf Komplimente, insbesondere leistungs- oder persönlichkeitsbezogene, reagieren Narzisstinnen mit größer Bescheidenheit. Sie schreiben Erfolge und Sympathie in erster Linie ihrem ansprechenden Aussehen zu, einige weisen somit auch eine Tendenz zum Hochstapler-Syndrom auf.
  • Weibliche Narzissten machen scheinbar niemals Fehler. Denn zur Not haben sie immer eine Erklärung oder können die Schuld jemand anderem zuordnen. Nur ihre inneren Kritiker bekommen sie so leider nicht zum Schweigen ...
  • Hand aufs Herz: Kennen Sie Frauen, auf die diese Merkmale zutreffen? Können Sie diese dann als Narzisstinnen abstempeln?

 

Phänomen männlicher Narzissmus: Definiert „am Puls der Zeit“

Narzissmus – insbesondere männlicher - ist ein beliebtes Thema für den Boulevard-Journalismus. Wir haben uns bei „WUNDERWEIB.de - DAS Onlinemagazin für echte Frauen“ - ein Beispiel unter vielen - kundig gemacht. „Wir bilden den gesamten Kosmos des modernen Lebens ab. Ob News, Liebe, Gesundheit, Rezepte, Fitness oder Mode: Unsere Themen sind stets am Puls der Zeit“. Auch die Bemerkungen zum männlichen Narzissmus sind „Am Puls der Zeit“.

Männliche Narzissten sind selbstverliebt und egozentrisch. Narzissten ist die eigene Erfüllung das Wichtigste im Leben. „Gegen einen solchen Partner hast du in der Liebe einen schweren Stand. Bewunderung ist ihm wichtig. Sehr wichtig. Er hat keinen Freundeskreis, er hat einen Fanclub. Er ist der Mittelpunkt der Party und alle lieben ihn. Menschen erinnern sich noch nach Jahren an ihn – er kann sich dagegen keinen einzigen Namen merken. Er weiß sich auszudrücken. Er ist unterhaltsam. Seine Themenwahl ist spannend. Er kann nur leider nicht zuhören, denn er ist gewohnt, dass alle an seinen Lippen hängen. Spricht jemand anders, reißt er das Gespräch mit eigenen Anekdoten wieder an sich. Und jeder zweite Satz beginnt mit „Ich“. Kompromisse mag er nicht. Stattdessen betont er, dass er dir seinen Freiraum nicht nehmen möchte. Wenn du keine Lust hast, das zu unternehmen, wonach ihm jetzt gerade ist, dann gewährt er dir großzügig, dass du dir deine Wünsche erfüllen kannst. Allein. Während er seine Interessen verfolgt. Auf halbem Weg treffen ist nicht sein Ding.“

 

»Sowohl ein niedriger Selbstwert als auch überhöhte Vorstellungen von der eigenen Person sind mit Problemen im zwischenmenschlichen Bereich verbunden«
 - Astrid Schütz, Persönlichkeitspsychologin

 

Konkret in die Zukunft planen möchte der männliche Narzisst nicht, er handelt sprunghaft und opportunistisch, er ergreift egoistisch jede Gelegenheit, die sich ihm bietet. Dabei möchte er sich nicht zu irgendetwas verpflichten lassen. „Er erklärt das mit Spontanität, aber eigentlich will er sich nur alle Möglichkeiten offenlassen.“ Seine Lebensmaxime: Hauptsache es geht ihm gut und er gewinnt mit möglichst wenig Aufwand größtmöglichen Nutzen für sich.

„Er kann durchaus großzügig sein. Aber er teilt nicht gern. Was er abgibt, das reicht er weiter, weil er selbst genug davon hat oder es nicht benötigt. Für andere Einschnitte zu ertragen, kommt ihm nicht in den Sinn. Er wünscht dir das Beste – aber nur, wenn es ihm an nichts mangelt.“…

„Immer wieder gibt er dir das Gefühl, er ist mit dir nur so lange zusammen, bis etwas Besseres kommt. Er schwärmt von anderen Frauen und vernachlässigt bei dir Lob, Anerkennung und Komplimente. Als wäre es schließlich Auszeichnung genug, dass du seine Nähe genießen darfst.“

Es stellen sich Fragen: Lassen sich nicht für jeden Menschen geschlechterunabhängig derartige Merkmale finden? Wie wirkt eine derartige Rasterung auf verunsicherte Menschen, auf verlassene Frauen in der Trennungsphase? Wird durch derartig vereinfachende Schwarz-Weiß-Rasterung ein Feindbild suggeriert? Wird der Narzisst so zum Phantom, dem liebenswerte Züge fehlen, den man ablehnen muss, mit dem Streit vorprogrammiert ist?

 

Narzissmus als „anerkanntes Krankheitsbild“


DSM-5 ist die Abkürzung für die 5. Auflage des "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders" (DSM). Es handelt sich um ein Klassifikationssystem für psychische Störungen, das von der American Psychiatric Association herausgegeben wird. Für Narzissmus gibt es darin ein Klaster von Kriterien. Danach kann man von einem Narzissten sprechen, wenn er mindestens fünf der folgenden Kriterien erfüllt.

Diagnostische Kriterien für Narzissmus im DSM-5

 

  • Hat ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit (z. B. übertreibt die eigenen Leistungen und Talente; erwartet, ohne entsprechende Leistungen als überlegen anerkannt zu werden).
  • Ist stark eingenommen von Fantasien grenzenlosen Erfolgs, Macht, Glanz, Schönheit oder idealer Liebe.
  • Glaubt von sich, „besonders“ und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder angesehenen Personen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder nur mit diesen verkehren zu können.
  • Verlangt nach übermäßiger Bewunderung.
  • Legt ein Anspruchsdenken an den Tag (d. h. übertriebene Erwartungen an eine besonders bevorzugte Behandlung oder automatisches Eingehen auf die eigenen Erwartungen).
  • Ist in zwischenmenschlichen Beziehungen ausbeuterisch (d. h. zieht Nutzen aus anderen, um die eigenen Ziele zu erreichen).
  • Zeigt einen Mangel an Empathie: Ist nicht willens, die Gefühle und Bedürfnisse anderer zu erkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren.
  • Ist häufig neidisch auf andere oder glaubt, andere seien neidisch auf ihn/sie.
  • Zeigt arrogante, überhebliche Verhaltensweisen oder Haltungen.

 

Die Subtypen des Narzissmus


Das DSM-5 beschreibt die narzisstische Persönlichkeitsstörung als einheitliches Syndrom. Heute geht die Forschung davon aus, dass es mehrere narzisstische Subtypen gibt. Neben dem grandiosen Narzissmus, welcher der Diagnose im DSM-5 sehr nahekommt, wird ein sogenannter vulnerabler Narzissmus unterschieden.

Vulnerable Narzissten haben große Angst vor dem Feedback anderer und schämen sich sehr, wenn sie Kritik erhalten. Arroganz, Überheblichkeit und dominantes Verhalten kommen kaum vor. „Betroffene wirken eher ängstlich und depressiv. Anders als beim grandiosen Narzissmus gehen vulnerable Narzissten ihre Mitmenschen nicht offen aggressiv an und werten sie nicht ab«, sagt Claas-Hinrich Lammers, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Asklepios Klinik Nord in Ochsenzoll. »Sie haben auch Größenfantasien. Aber sie trauen sich aus Angst vor Ablehnung nicht, diese nach außen zu tragen.“

 

Lammers hebt hervor: »Beim grandiosen und vulnerablen Narzissmus handelt es sich nicht etwa um zwei Seiten einer Medaille. Vielmehr sind es zwei eigenständige Typen des Narzissmus mit sehr unterschiedlichen Persönlichkeitsprofilen.“

 

Grandiose Narzissten sind kontaktfreudig, aber rücksichtslos, was eine ausgesprochen explosive Mischung ergibt. Vulnerable Narzissten vertragen sich ebenfalls nicht gut mit anderen, sind jedoch eher introvertiert, neurotisch – also emotional labil –, haben ein niedrigeres Selbstwertgefühl und eine geringere Lebenszufriedenheit. Sie treten nach außen hin weniger prahlerisch und feindselig auf und werden daher seltener als Narzissten erkannt. »Gemeinsam haben beide Typen neben der sozialen Unverträglichkeit ihre Größenfantasien, die Selbstbezogenheit und die hohe Anspruchshaltung«, sagt Lammers.

 

»Bei der narzisstischen Persönlichkeit kann man davon ausgehen, dass sie bis zu 50 Prozent erblich bedingt ist«
 - Claas-Hinrich Lammers, Psychiater



Diagnose Narzisst oder Narzisstin im Sorgerechtsstreit


Grundsätzlich raten Psychologen davon ab, einen Elternteil im Sorgerechtsstreit als Narzissten zu bezeichnen. Im Gutachten liegt das Urteil aber oft sehr nahe und wird von Insidern erkannt. Gutachter oder die Gutachterin raten dann oft, den jeweiligen Elternteil durch einen „Kollegen oder eine Kollegin diagnostizieren“ zu lassen.

 

Auf dieses Merkmal in DSM-5 berufen sich Gutachter/Innen gerne: „Er zeigt einen Mangel an Empathie: Ist nicht willens, die Gefühle und Bedürfnisse anderer zu erkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren.“

 

Das Problem bei der Diagnose Narzissmus ist die Tatsache, dass das Krankheitsbild Narzisst schwer greifbar ist und nur in der Zusammenarbeit mit der Person diagnostiziert werden kann. Um an entsprechende „persönliche Daten“ zu kommen, versenden Gutachtern/Innen vorweg Fragebogen, die sehr intensiv übergriffig sind, ja, teilweise nichts mit dem Auftrag des Gerichts zu tun haben. Die Ergebnisse und Daten der Fragebogen sind es dann auch, die dann an den Kollegen/In weitergereicht werden können. Dessen „Diagnose“ bestätigt tatsächlich oft – nicht immer(!) - was im Gutachten schon nahegelegt wurde.

 

Eine Gutachterin, die hier nicht persönlich genannt werden will, meinte: „Ich lege lieber dar, wie sich eine Person verhält. Dazu orientiere ich mich an Kriterien von DSM-5, die lassen sich anhand von Beispielen veranschaulichen. Etikettiert man einen Elternteil, ohne dass man sich auf eine fundierte Diagnose berufen kann, dann kommt das bei mancher Richterin oder Richter als arrogant an. Für Anwälte ist das immer ein Punkt, auf den sie sich stürzen und das ganze Gutachten anzweifeln.“

 

Unbestreitbar, ein Mangel an Empathie hat Auswirkungen auf das Kind. Aber kann man Empathie nicht auch lernen? Es fällt auf, dass meist nur von „dem Narzissten“ die Rede ist, während andernorts gerade in der Psychologie tüchtig gegendert wird.

Es gilt als ausgemacht: Kinder von Narzissten haben geringeres Selbstbewusstsein als andere Kinder, sie ziehen sich oft zurück. Kinder von Narzissten sind unsicherer als andere. Sie haben häufig Angst, alleingelassen und verlassen zu werden. Betroffenen Kindern fällt es oft schwer, die eigene Meinung zu sagen aus Angst, abgelehnt zu werden. Folgen sind dann psychische Probleme wie Depression, Essstörung oder Selbstverletzung.

Erziehungsfähigkeit erfordert Empathie. Gerade darin haben Narzissten/innen Defizite, sagt man. Darauf fokussieren sich Gutachten. Fakt ist nun einmal: Wer erziehen will, muss auf andere eingehen, die Bedürfnisse des Kindes erkennen und adäquat erfüllen. Wer das nicht kann, gilt a priori als nicht erziehungsfähig. So klar wird das nicht im Gutachten stehen, aber negative Auswirkungen auf das Kind suggerieren, indem gezielt Aussagen und Verhaltensweisen entsprechend ausgewählt werden.

 

Das „Krankheitsbild Narzisst“ spielt in Gutachten auf sublime Weise eine Rolle, die DSM-5 Kriterien werden berücksichtigt, allerdings gehört die Diagnose Narzisst nicht zum Aufgabenfeld einer Gutachterin.


Trennung von „einem Narzissten“: Mit verunsicherten Menschen Geschäfte machen


Die Trennung von einem Narzissten – männlich natürlich – wird als besonders schwierig beschrieben. Es wird behauptet, es gibt „einige typische Verhaltensweisen des Narzissten nach einer Trennung“. Das liest sich dann so: „Wenn du es endlich geschafft hast, dich von einem Narzissten zu trennen, kommt der fast noch schwierigere Teil: die Trennung von einem Narzissten durchzuhalten.“ Hat das etwas mit „einem Narzissten“ zu tun, oder verläuft nicht jede Trennung mit ambivalenten Gefühlen nach dem Schema: „Soll ich gehen oder nicht?“

Aus der ambivalenten Trennungssituation ergeben sich auch ambivalente Verhaltensweisen. Die übliche Verhaltensweise wird im Sinne des Coaches - der Altruismus vorspiegelt, aber immer Geld machen will – umgedeutet: „Dein narzisstischer Ex setzt sein „Love-Bombing“ ein, das du vielleicht aus der Anfangszeit eurer Beziehung kennst:  …, wenn du jetzt gehst, bist du unverantwortlich und Schuld am Scheitern der Beziehung.“

Die Frage nach der Schuld hat mit Narzissmus nichts zu tun, sondern jedes Paar fragt sich, warum die Beziehung gescheitert ist und wer von Beiden am Scheitern schuld ist. Die Schuldfrage spielt zwar juristisch keine Rolle mehr, aber es handelt sich um eine zutiefst menschliche Frage.

Auch das hat mit Narzissmus nichts zu tun, sondern ist typisch für Trennung: „Und manchmal tut dir der scheinbar verwandelte Narzisst auch einfach nur leid in seiner zur Schau gestellten Liebe, dass du gar nicht anders kann, als zu ihm zurückzugehen.“ Davor wird gewarnt und behauptet, „das Verhalten des Narzissten nach der Trennung ist ein ständiges Auf und Ab zwischen Love Bombing und Terror. Das wird nicht aufhören.“ Das ist Wahrsagerei, ist das nicht individuell unterschiedlich?

Vor Mediation und Paartherapie wird gewarnt: „Manchmal bringt dein narzisstischer Ex gerade in und nach der Trennung Paartherapie oder Mediation ins Spiel. Paartherapie, um es noch einmal zu versuchen. Mediation, um die Trennung doch harmonisch und gut zu bewältigen. Beide Methoden dienen dem Narzissten häufig nur dazu, dich wieder in die Beziehung zurückzuholen. Oder in einer Mediation durch Eloquenz und Manipulation dich und deine berechtigten Interessen leerlaufen zu lassen. … Entscheide selbst, bewahre dir eine gesunde Skepsis. Höre auf deine innere Stimme. Wenn diese im Moment kaum zu hören ist, suche dir Hilfe in Beratung oder Coaching.“ Ein Link zur „Hilfe“ ist auf diesen Seiten mehrfach zu finden.

Dem narzisstischen Partner werden „Machtspiele“ vorgeworfen, was immer damit gemeint ist. Auf einer Seite ist zu lesen: „Dein narzisstischer Partner droht damit, dass du „kein Geld und Unterhalt sehen“ wirst, dass er eure Kinder mindestens „halb“ bei sich haben will, zum Beispiel im sogenannten Wechselmodell, und dass er keinesfalls aus eurer Wohnung oder eurem Haus ausziehen wird. … Viele Frauen, die sich mit diesen Drohgebärden konfrontiert sehen, verzweifeln. Die meisten wollen eine harmonische Trennung, vor allem der Kinder wegen. Manche lassen die Trennung dann sein und leiden lieber still vor sich hin.“

Auf der gleichen Seite wird schließlich dazu aufgerufen: „Es tut mir leid, aber im Großen und Ganzen gilt bei der Trennung von einem Narzissten der Grundsatz: entweder wirst du über den Tisch gezogen oder du stehst irgendwann auf und zeigst die Zähne. Im Klartext heißt das, suche dir so früh wie möglich eine Rechtsanwältin, die dich über die Trennung begleitet und dir sagt, was rechtlich geht und was vielleicht nicht. Und suche dir emotionale Begleitung, zum Beispiel im Coaching, damit du überhaupt dahin kommst: zu lernen für dich selbst einzustehen und nicht immer Rücksicht zu nehmen zum eigenen Schaden.“

Unter dem Logo „Trennung vom narzisstischen Partner“ wird unumwunden zu einer streitigen Scheidung aufgerufen. Väter, die eine Wechselmodell wollen, wird Narzissmus unterstellt. Wer in der Wohnung/Haus bleibt, ist oft Streitthema, gerade jetzt bei den explodierten Wohn- und Energiekosten? Wo bleibt das Kindeswohl, ist dafür nur die Mutter zuständig? Suggeriert werden doppelte Kosten für Anwältin und Coach.

Ein Grundproblem dieser Seiten ist, dass verunsicherte, frustrierte Frauen, die im angeblichen Narzissmus ihres Partners die Erklärung für das Scheitern ihrer Ehe sehen, dort nochmals aufgeputscht werden. Somit wird eine einvernehmliche Scheidung, die im Interesse der Kinder liegt, verhindert. Das vorgeschlagene konfrontative Verhalten verhindert die Transformation zu einer Trennungsfamilie.

Des Weiteren wird von narzisstischen Partnern behauptet, dass sie  nach der Trennung stalken, plötzlich auftauchen, nachstellen, kontrollieren, ständig WhatsApp-Nachrichten schreiben, in Sozialen Medien der Expartnerin auflauern, nächtliche Anrufe, … Sind das nicht typische Verhaltensweisen, die in der ambivalenten Phase des Trennungsprozesses – mal mehr, mal weniger - vorkommen?

Nach unserer Erfahrung sind einzelne Verhaltensmuster auf beide Geschlechter verteilt. Ist das Stalken im Sinn des Strafgesetzbuches? Wollen sich manche Ehemalige nicht ihre Trauer, Schmerz, Enttäuschung, mit vielen WhatsApps von der Seele schreiben? Oder will sich manche Partnerin, mancher Partner nicht einfach Sicherheit verschaffen, ob da schon jemand anderes da ist, eingezogen ist, … Sind das typisch narzisstische Verhaltensweisen, sind das typisch männlich narzisstische Verhaltensweisen?


Was am Ende wirklich bleibt: Narzissmus ein Fass ohne Boden


Noch nie haben wir uns derart lange und intensiv mit einem Begriff, einem Phänomen, möglicherweise gar einem Phantom, einem gerasterten Verhaltensmuster, einer angeblichen oder tatsächlichen Verhaltensstörung beschäftigt, ohne dann letztendlich doch nicht auf den Punkt zu kommen.

Auch wenn man die Kriterien des DSM-5 berücksichtigt, so ist Narzissmus nur vage definierbar – und nach unserer festen Überzeugung auch nur vage diagnostizierbar.

Narzissmus ist ein Narrativ und assoziiert Egoismus, Persönlichkeitsstörung, ohne diese auch klar und wissenschaftlich objektiv zu benennen. Ein Sammelbegriff, um Personen abzustempeln.

Narzissmus ist inzwischen ein gebräuchliches weitläufiges Narrativ, zu dessen Konkretisierung oder „Diagnose“ viele „Fachkräfte“ beider Geschlechter (Coaches, Mediatoren, Psychologen, Pädagogen, Heilpraktiker, Esoteriker) sich berufen fühlen. Sie alle behaupten von sich, die drei, vier, fünf, sechs, … Punkte gefunden zu haben, anhand deren man einen narzisstischen Menschen einnordnen kann.

Im Zusammenhang von Trennung, Scheidung und elterlicher Sorge ist die Fixierung auf ein Raster-Narzissmus vielfältig und intensiv. Mit Narzissmus lassen sich alle Beziehungsprobleme, alle Probleme mit Kindern begründen, abstempeln. Eine Kernaussage, die sich durch alle Narzissmus-Homepages zieht: Mit einem narzisstischen Partner ist eine Beziehung auf Augenhöhe nicht möglich, es kann nur eine „toxische Beziehung“ sein.

Menschen in der Trennungssituation suchen nach Trennungsgründen, nach der „Schuld“. Das Narrativ „Narzissmus“ liefert den Schuldigen. Besagte „Fachkräfte“ brechen die DSM-5 Kriterien herunter in alltägliche Verhaltensschemata, die dann von verunsicherten Menschen offensichtlich auf den narzisstischen Partner/In übertragen werden. Beim Transformationsprozess helfen die „Fachkräfte“ mit teils teuren Büchern, gutbezahlten Coaching Stunden, kostenpflichtigen Fragebogen. „Narzissmus“ wird bestens vermarktet, ist teilweise eine Gelddruckmaschine, obwohl das Gebotene gar nicht so individuell-originell ist. Die Fachkräfte „helfen“ sich gegenseitig mit Erkenntnissen aus, zumindest sind die Erkenntnisse und Ratschläge sehr ähnlich, viele im anbiedernden „Du-Stil“.

Bei allem Marketing-Tamtam kommt eine Frage zu kurz: Einmal Narzisst, immer Narzisst? Fakt ist, jeder Mensch hat narzisstische Anteile – und das ist gut so. Die Frage ist viel mehr, wie viele Anteile und wie intensiv werden diese ausgelebt.

Bärbel Wardetzki, die sich schon über 30 Jahre mit dem Phänomen Narzissmus beschäftigt, hebt hervor, dass es höchstens 5 Prozent der Menschen sind, die eine „diagnostizierbare narzisstische Persönlichkeitsstörung“ haben.

 

„Alles andere sind mehr oder weniger starke narzisstische Anhaftungen, die dann auch noch nicht in dem Sinne Krankheitswert haben, sondern die sogar eine ganze tolle Möglichkeit sind, um mit Selbstwertverletzungen umzugehen. Also, bevor ich depressiv in der Ecke sitze, mache ich mich im Narzissmus ein bisschen größer, werde kräftiger und kann zupacken, ganz banal gesagt. Narzissmus ist eine Möglichkeit, das Selbstwertgefühl zu schützen und es zu stärken. Von daher ist es erst einmal positiv“, hebt Wardetzki hervor.

 

Wir rufen dazu auf, opfern Sie Ihre individuelle Sichtweise jedes Menschen, insbesondere Ihres ehemaligen Partners/In, nicht einem Plakativ. Ja, machen Sie sich ein Bild von Menschen, aber nageln Sie den anderen nicht auf dieses Bild fest, sondern hinterfragen Sie es. Erst dann wird Empathie möglich. Empathie ist bekanntlich die Grundlage für eine einvernehmliche Trennung und das Entstehen einer Trennungsfamilie.


 

 

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