BGH, Beschluss v. 23.6.2010, Az. XII ZB 232/09 - Verfahrenskostenhilfe

a)  Ist eine Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht vorgeschrieben, ist dem Beteiligten im Rahmen der bewilligten Verfahrenskostenhilfe ein Rechtsanwalt beizuordnen, wenn dies wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage erforderlich ist. Entscheidend ist dabei, ob ein bemittelter Rechtssuchender in der Lage des Unbemittelten vernünftigerweise einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt hätte.

 

b)  Die gebotene einzelfallbezogene Prüfung lässt eine Herausbildung von Regeln, nach denen der mittellosen Partei für bestimmte Verfahren immer oder grundsätzlich ein Rechtsanwalt beizuordnen ist, regelmäßig nicht zu. Ein Regel-Ausnahme-Verhältnis ist nach der gebotenen individuellen Bemessung deswegen nicht mit dem Gesetz vereinbar.

 

c)  Das Verfahren kann sich für einen Beteiligten auch allein wegen einer schwierigen Sachlage oder allein wegen einer schwierigen Rechtslage so kompliziert darstellen, dass auch ein bemittelter Beteiligter einen Rechtsanwalt hinzuziehen würde. Jeder der genannten Umstände kann also die Beiordnung eines Rechtsanwalts erforderlich machen.

 

d)  Die Erforderlichkeit zur Beiordnung eines Rechtsanwalts beurteilt sich auch nach den subjektiven Fähigkeiten des betroffenen Beteiligten.

 

e)  Auch wenn der Grundsatz der Waffengleichheit kein allein entscheidender Gesichtspunkt für die Beiordnung eines Rechtsanwalts im Rahmen der Verfahrenskostenhilfe mehr ist, kann der Umstand der anwaltlichen Vertretung anderer Beteiligter ein Kriterium für die Erforderlichkeit zur Beiordnung eines Rechtsanwalts wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage sein.

 

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Urteil

Gericht         : BGH
Datum           : 23.06.2010
Aktenzeichen    : XII ZB 232/09
Leitparagraph   : FamFG §78
Quelle          : www.bundesgerichtshof.de
Kommentiert von : RA Simon Heinzel

Inhalt:

Folgender Sachverhalt lag zugrunde:

 

Es geht um das Umgangsrecht eines Vaters. Nachdem die Lebensgefährtin des Vaters zu diesem gezogen ist, begehrt der Vater ein 14-tägiges Umgangsrecht mit Übernachtungen auch in Anwesenheit der Lebensgefährtin (dies war vorher in einem Umgangsbeschluss noch anders geregelt). Das AG hat zwar Verfahrenskostenhilfe bewilligt, jedoch im Hinblick auf das seit 01.09.2009 geltende Recht die Beiordnung eines Rechtsanwalts abgewiesen. Das OLG hat dies bestätigt. Das OLG hat die Rechtsbeschwerde hiergegen zugelassen. Der Vater hat Rechtsbeschwerde zum BGH eingelegt.

 

 

Die Entscheidung des BGH:

 

Der BGH hat die Voraussetzungen der Rechtsanwaltsbeiordnung gemäß § 78 FamFG geprüft. Nach § 78 Abs. 2 FamFG ist in Verfahren des Sorge- und Umgangsrechtes eine Rechtsanwaltsbeiordnung nur geboten, wenn wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint. Der BGH musste dieses neue Gesetz (gültig seit 01.09.2009) auslegen.

 

Teilweise wurde von der Literatur ein sehr enger Maßstab angenommen, es sei nach objektiven Kriterien zu beurteilen, wann eine schwierige Sach- und Rechtslage vorliegt. Ob jemand in rechtlichen Angelegenheiten unbewandert ist, sei angesichts der Amtsermittlungspflicht nicht von Belang (Prütting u. a., FamFG § 78 Rdn.3 / Horndasch, FamFG § 78, Rdn. 66 ff. / Thomas u. a., ZPO, 30. Auflage, § 78 FamFG, Rdn. 3). Eine andere Auffassung geht davon aus, dass wegen der besonderen Bedeutung von Kindschaftssachen grundsätzlich die Beiordnung eines Rechtsanwaltes zu erfolgen hat (OLG Schleswig, FamRZ 2010, S. 826). Die überwiegende Auffassung will neben objektiven Kriterien auch subjektive Umstände berücksichtigen, wie z. B. die Fähigkeit der Beteiligten, sich mündlich oder schriftlich auszudrücken, wie der Einzelne subjektiv in der Lage ist, seine Rechte und Interessen im Verfahren durchzusetzen (OLG Celle, FamRZ 2010, S. 582, OLG Zweibrücken, FamRZ 2010, S. 579 u. a.).

 

Der BGH hat sich der zuletzt genannten Auffassung angeschlossen, auch wenn der Wortlaut des § 78 Abs. 2 FamFG mehr dafür spricht, die Anwaltsbeiordnung nach objektiven Kriterien zu bemessen. Die Erforderlichkeit der anwaltlichen Vertretung beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die gebotene Einzelfallprüfung spiegelt sich in den Leitsätzen des BGH wieder. Ob die Beiordnung eines Rechtsanwalts erforderlich ist, hängt insbesondere davon ab, ob ein Beteiligter, der genügend finanzielle Mittel zur Verfügung hat, vernünftigerweise einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt hätte. Im speziell vorliegenden Fall geht der BGH davon aus, dass die Sach- und Rechtslage bereits aus objektiver Sicht nicht einfach gelagert ist. Entscheidend sind weiter die subjektiven Umstände beim Vater (krankheitsbedingter Natur), die das OLG nicht beachtet hat. Dies hat zur Folge, dass eine Rechtsanwaltsbeiordnung geboten ist.

 

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Fazit

 

In Familiensachen heißt die frühere Prozesskostenhilfe seit 01.09.2009 Verfahrenskostenhilfe. In sog. Ehe- und Familienstreitsachen (z. B. Unterhalt oder Zugewinn) sind weiterhin die §§ 114 ff. ZPO anzuwenden und nicht die §§ 76 – 78 FamFG, sodass grundsätzlich Verfahrenkostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwaltes bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen (Mittellosigkeit/Erfolgsaussichten) zu bewilligen ist. Für ein Mediationsverfahren gibt es keine Verfahrenskostenhilfe. Weiterhin sind von Bedeutung Erfolgsaussichten des Verfahrens und die Frage, ob ein Verfahren mutwillig eingeleitet wurde oder nicht. Neu ist für Verfahren ohne Anwaltszwang (z. B. Umgangs- oder Sorgerechtsverfahren), dass die Beiordnung eines Rechtsanwalts nur noch dann erfolgt, wenn dies wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage erforderlich erscheint (§ 78 Abs. 2 FamFG). Somit wird eine Rechtsanwaltsbeiordnung seltener als in der Vergangenheit erfolgen. Der BGH hat nunmehr darauf hingewiesen, dass jedoch nicht nur objektive Kriterien heranzuziehen sind, sondern auch subjektive Umstände von Bedeutung sind. Eine Einzelfallprüfung ist geboten, entscheidend ist immer die Frage, ob auch ein Beteiligter, der keinen Anspruch auf Verfahrenskostenhilfe hat, einen Rechtsanwalt beiziehen würde oder nicht. Der Grundsatz der Beiordnungspflicht wegen der notwendigen „Waffengleichheit“, wenn die andere Partei anwaltlich vertreten ist, gilt nur noch für Ehe- und Familienstreitsachen, da hier weiterhin § 121 ZPO anzuwenden ist, nicht hingegen für sorge- oder umgangsrechtliche Verfahren. Trotzdem hat der BGH herausgestellt, dass der Umstand der anwaltlichen Vertretung eines Beteiligten ein Kriterium für die Erforderlichkeit zur Beiordnung eines Rechtsanwalts für den anderen Beteiligten sein kann.

 

Mit dieser Entscheidung hat der BGH letztendlich auch für familienrechtliche Verfahren, für die nach Gesetz kein Anwaltszwang besteht, eine „Beiordnungsverpflichtung“ festgeschrieben, da mit entsprechenden Argumenten, nahezu in jedem Verfahren eine Notwendigkeit für die Beiordnung eines Rechtsanwalts begründet werden kann. Die Leitsätze des BGH sind so formuliert, dass nahezu jede Fallgestaltung mit entsprechenden Zusatzargumenten zu einer Anwaltsbeiordnung im Rahmen der Verfahrenskostenhilfe führt.