BGH, Urteil vom 15.9.2010 - Elternunterhalt

  1. Gemäß § 1611 I S. 1 Alt. 3 BGB setzt die Verwirkung wegen einer schweren Verfehlung ein Verschulden des Unterhaltsberechtigten voraus. Es genügt nicht, wenn er in einem natürlichen Sinne vorsätzlich gehandelt hat.
  2. Eine Störung familiärer Beziehungen im Sinne des § 1611 BGB genügt grundsätzlich nicht, um eine unbillige Härte im Sinne des § 94 III S. 1 Nr. 2 SGBXII zu begründen und damit einen Anspruchsübergang auf den Träger der Sozialhilfe auszuschließen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der nach § 1611 BGB zu beurteilende Lebenssachverhalt aus Sicht des Sozialhilferechts auch soziale Belange erfasst, die einen Übergang des Anspruches nach öffentlich-rechtlichen Kriterien ausschließen (Klarstellung zum Senatsurteil v. 21.4.2004 – XII ZR 215/01, FamRZ 2004, 1097).

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Urteil

Gericht         : BGH
Datum           : 15.09.2010
Aktenzeichen    : XII ZR 148/09
Leitparagraph   : BGB §1611
Quelle          : FuR 2011, S. 49
Kommentiert von : RA Simon Heinzel


Inhalt:

Folgender Sachverhalt lag zugrunde:

 

Die Klägerin ist Trägerin der öffentlichen Hilfe (Sozialamt) und nimmt den Beklagten auf Zahlung von Elternunterhalt in Anspruch (nach übergegangenem Recht), da für die Mutter des Beklagten, die sich in einem Pflegeheim befindet, Kosten anfallen, die durch die Rente der Mutter nicht abgedeckt sind. Die Mutter war schon während der Kindheit des Beklagten psychisch krank. Sie hat den Sohn erzogen und versorgt, jedoch mit Unterbrechungen wegen zum Teil längerer Krankenhausaufenthalte. Spätestens seit dem 16. Lebensjahr des Sohnes besteht kein Kontakt mehr.

 

Gegen die Klage hat sich der Beklagte auf Verwirkung gemäß § 1611 BGB berufen. Das Familiengericht hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben, lediglich für einen zurückliegenden Zeitraum einen Verwirkungsgrund gemäß § 242 BGB (nicht gemäß § 1611 BGB) angenommen. Sowohl in der Berufungsinstanz als auch in der Revisionsinstanz vor dem BGH wurde das Ersturteil bestätigt.

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Die Entscheidung des BGH:

 

a)

Der BGH hat zunächst den allgemeinen Verwirkungsgrund nach § 242 BGB geprüft, wonach sowohl ein Zeitmoment als auch ein Umstandsmoment vorliegen muss, um zu einer Verwirkung zu gelangen. Das Zeitmoment ist insoweit erfüllt, wenn Zeitabschnitte betroffen sind, die länger als ein Jahr vor Klageerhebung zurückliegen. Wenn der Berechtigte (hier: Sozialamt) ein Recht längere Zeit nicht geltend macht, obwohl er dazu in der Lage wäre, und der Unterhaltsverpflichtete sich darauf einrichten dürfte und auch hat, dass das Recht auch in Zukunft nicht geltend gemacht werde, kommt eine Verwirkung in Betracht (so schon BGH, FamRZ 2002, S. 1698 bzw. FamRZ 2007, S. 453). Da an das Zeitmoment keine hohen Anforderungen zu stellen sind, können Zeitabschnitte von der Verwirkung betroffen sein, die mehr als ein Jahr zurückliegen. Selbiges gilt auch für staatliche Behörden. Neben dem Zeitmoment müssen jedoch besondere Umstände hinzutreten (Umstandsmoment), warum sich der Unterhaltsverpflichtete sich darauf einstellen konnte und durfte, dass er nicht mehr in Anspruch genommen wird. Im vorliegenden Fall hat zwar das Sozialamt die Klage erst erhoben lange nach Ablauf eines Jahres nach der ersten Geltendmachung, es erfolgte jedoch auch in dieser Zeit Schriftverkehr unter den Beteiligten, sodass das Umstandsmoment für eine Verwirkung nicht erfüllt ist.

b)

Eine Verwirkung kommt auch nicht nach § 1611 BGB in Betracht. Eine gröbliche Vernachlässigung der Unterhaltspflicht durch die Mutter in der Kindheit des Sohnes erkennt der BGH nicht, da die Mutter ohne Verschulden etwa ab dem 9./10. Lebensjahr des Sohnes krankheitsbedingt nicht mehr in der Lage war die Kinderbetreuung sicherzustellen. Da die Mutter psychisch erkrankt war, kann in der Nichtbetreuung des Kindes in der Kindheit keine schwerwiegende Verfehlung erkannt werden, zudem trifft die Mutter aufgrund ihrer Erkrankung kein Verschulden.

c)

Nach Auffassung des BGH kommt auch kein Verwirkungsgrund gemäß § 94 SGB XII in Betracht. § 94 SGB XII ist letztendlich wie § 1611 BGB auszulegen, um zu einer Verwirkung zu gelangen, insbesondere bedarf es jedoch keines Verschuldens des Unterhaltsberechtigten. Eine sogenannte unbillige Härte gemäß § 94 SGB XII liegt für den Unterhaltsverpflichteten dann vor, wenn der zu beurteilende Lebenssachverhalt auch soziale Belange erfasst und ein Zusammenhang zu staatlichem Handeln vorliegt. Insoweit grenzt sich der BGH von einem im Jahr 2004 entschiedenen Fall ab, bei der der BGH eine Verwirkung bzw. eine unbillige Härte angenommen hat bei einer psychischen Erkrankung des Vaters, die nachgewiesenermaßen dem Kriegsdienst zuzurechnen war und daher einen staatlichen Bezug hatte (BGH, FamRZ 2004, S. 1097). Im hier vorliegenden Fall liegt jedoch kein staatlicher Bezug vor, sodass auch keine unbillige Härte vorliegt. Insbesondere verfügt der Beklagte im vorliegenden Fall über relativ gute Einkünfte und hat selbst seine Mutter weder betreut noch gepflegt, sodass eine Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme nicht zu sehen ist.

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Fazit

Mit dieser Entscheidung hat der BGH erneut klargestellt, dass bereits nach einem Jahr (Zeitmoment) eine Verwirkung eintreten kann, hat jedoch auch ausdrücklich darauf verwiesen, dass daneben Umstände vorliegen müssen (Umstandsmoment), wonach der Unterhaltsverpflichtete davon ausgehen konnte, dass er nicht mehr in Anspruch genommen wird. Wenn während des Jahreszeitraumes oder eines längeren Zeitraumes regelmäßiger Schriftverkehr mit Zahlungsaufforderungen oder Auskunftsansprüchen erfolgt, wird ein Umstandsmoment nicht erfüllt sein. Auch stellt der BGH klar, dass wenn das Sozialamt an Stellungnahmefristen während des Jahreszeitraumes erinnert etc., dass dann der Unterhaltsverpflichtete keinen Vertrauensschutz genießt. Ob allerdings lapidare Bearbeitungsmitteilungen eines Sozialhilfeträgers ausreichend sind, um die Verwirkung zu umgehen, ist wohl zu bezweifeln (so auch Hauß, FamRZ 2010, S. 1892).

Weiterhin hält der BGH daran fest, dass eine Verwirkung nach § 1611 BGB nur dann gegeben ist, wenn ein schuldhaftes Verhalten des bedürftigen Elternteils vorliegt, was bei psychischen Erkrankungen während der Betreuung des Kindes ausgeschlossen ist. Lediglich über § 94 SGB XII könnte dann noch eine grobe Unbilligkeit sich für den Unterhaltsverpflichteten darstellen, dies jedoch nur dann, wenn diese unbillige Härte sich aus Umständen ergibt, die einen Bezug zum Sozialrecht haben.

 

Diese doch sehr restriktive Auslegung für die Verwirkung erscheint im Lichte der anderweitigen Rechtsprechung zum Unterhaltsrecht befremdlich. Der BGH hat „wandelbare eheliche Lebensverhältnisse“ entwickelt, schränkt Ehegattenunterhaltsansprüche bei ehebedingten Nachteilen ein, gibt zwischenzeitlich auch Dritten (Schwiegereltern) Ausgleichsansprüche gegen das Schwiegerkind außerhalb des Güterrechts etc. und weicht damit die „familiäre Solidarität“ auf, um mit diesem Urteil eine sehr starke Solidaritätspflicht zur Unterhaltszahlung eines Kindes gegenüber seinen Eltern einzufordern, obwohl das Kind (egal, aus welchem Grund) diese familiäre Solidarität nie erfahren hat.

Der Verwirkungseinwand beim Elternunterhalt gehört zu den meist gebrauchten Verteidigungsstrategien des unterhaltspflichtigen Kindes, der BGH legt jedoch weiterhin diese Frage sehr restriktiv aus. Es ist daher beim Elternunterhalt auch ein erhöhtes Augenmerk zu legen auf die wohl entscheidendere Frage der Leistungsfähigkeit des unterhaltspflichtigen Kindes, die Verpflichtung zur Vermögensverwertung bzw. auf die Höhe eines etwaigen Schonvermögens. Auch hier hat der BGH (BGH, FamRZ 2010. S. 1535) ein Urteil erlassen, in welchem er die Methode zur Berechnung der Leistungsfähigkeit des Kindes darlegt. In diesem Bereich gibt es jedoch noch erhebliche Rechtsunsicherheit, was darauf zurückzuführen ist, dass das Problem des Elternunterhaltes im Hinblick auf erhöhte Lebenserwartung und die kostenintensive Pflege sich erst in den letzten Jahren verstärkt stellt.