BGH, Urteil vom 18.03.2009 - Unterhaltsrecht

  1. Im Rahmen der Billigkeitsentscheidung über eine Verlängerung des Betreuungsunterhalts aus kindbezogenen Gründen nach § 1570 Abs. 1 S. 2 und 3 BGB ist stets zunächst der individuelle Umstand zu prüfen, ob und in welchem Umfang die Kindesbetreuung auf andere Weise gesichert ist oder in kindgerechten Betreuungseinrichtungen gesichert werden könnte. Denn mit der Neugestaltung des nachehelichen Betreuungsunterhalts in § 1570 BGB hat der Gesetzgeber für Kinder ab Vollendung des dritten Lebensjahres den Vorrang der persönlichen Betreuung aufgegeben.
  2. Ein Altersphasenmodell, das bei der Frage der Verlängerung des Betreuungsunterhalts aus kindbezogenen Gründen allein auf das Alter des Kindes abstellt, wird diesen Anforderungen nicht gerecht.
  3. Soweit die Betreuung des Kindes auf andere Weise sichergestellt oder in einer kindgerechten Einrichtung möglich ist, kann einer Erwerbsobliegenheit des betreuenden Elternteils auch entgegenstehen, dass der ihm daneben verbleibende Anteil an der Betreuung und Erziehung des Kindes zu einer überobligationsmäßigen Belastung führen kann (im Anschluss an das Senatsurteil vom 16.07.2008 – AZ. XII ZR 109/05 – FamRZ 2008, 1739, 1748 f.).

 ~

Urteil

Gericht         : BGH
Datum           : 18.03.2009
Aktenzeichen    : XII ZR 74/08   
Leitparagraph   : BGB §1570, BGB §1578b
Quelle          : www.bundesgerichtshof.de
Kommentiert von : RA Simon Heinzel

Inhalt:

Folgender Sachverhalt lag zugrunde:

Die Parteien streiten um nachehelichen Unterhalt. Sie waren seit Januar 2000 verheiratet, im Jahr 2001 wurde der von der Klägerin (Ehefrau) betreute Sohn geboren, seit September 2003 leben die Parteien getrennt und sind seit April 2006 rechtskräftig geschieden. Seit 2005 besucht der Sohn eine Kindertagesstätte mit Nachmittagsbetreuung, seit September 2007 geht er zur Schule und danach bis 16.00 Uhr in den Hort. Die Mutter ist verbeamtete Studienrätin und bereits seit August 2002 mit knapp 7/10 einer Vollzeitstelle (18 Wochenstunden) erwerbstätig.

Das Amtsgericht hat den Beklagten (Ehemann) zur Zahlung nachehelichen Betreuungs- und Aufstockungsunterhalts in zeitlich gestaffelter Höhe, zuletzt für die Zeit ab November 2007 in Höhe von monatlich 837 Euro verurteilt. Die Berufung des Ehemannes, mit der er eine Herabsetzung des monatlichen Unterhalts auf 416,32 Euro für die Zeit ab November 2007 und eine zeitliche Befristung der Unterhaltszahlungen bis Juni 2009 begehrt hat, wurde vom Berufungsgericht zurückgewiesen.

Die Revision wurde vom Berufungsgericht zugelassen, da im Hinblick auf das seit 1. Januar 2008 geltende neue Unterhaltsrecht die Fragen der Erwerbsobliegenheit trotz Kinderbetreuung und der Befristung grundsätzliche Bedeutung haben. Der BGH hat die Entscheidung des Berufungsgerichts (für die Zeit ab 1. Januar 2008) aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen, wobei er in seiner Entscheidung für das weitere Verfahren Hinweise erteilt hat.

 ~

Die Entscheidung des BGH:

  1. Das Berufungsgericht geht davon aus, dass die Mutter schlüssig dargelegt hat, dass es ihr aus Kindeswohlgründen derzeit nicht zumutbar sei, einer vollen Erwerbstätigkeit nachzugehen und hat dies auch damit begründet, dass das Kind an chronischem Asthma leidet. Ein gerade erst eingeschultes Kind benötige noch die Zuwendung und Betreuung des Elternteils, was mit erheblichem zeitlichen Aufwand verbunden sei. Die Mutter kann nicht darauf verwiesen werden die Großeltern mütterlicherseits oder andere Privatpersonen zu Betreuungszwecken in Anspruch zu nehmen. Zudem sei die Mutter zu fast 70 % erwerbstätig. Eine zeitliche Befristung oder Beschränkung sei nicht geboten, da die Dauer der Betreuungsbedürftigkeit nicht exakt absehbar sei, insbesondere weil die weitere Entwicklung des Kindes nicht vorhersehbar sei. Es sei nicht möglich, eine Prognose abzugeben, ob und in welchem Umfang der Ehefrau infolge der Kindesbetreuung ehebedingte Nachteile entstünden. Derzeit stehe fest, dass der Frau keine vollschichtige Erwerbstätigkeit zuzumuten ist.
  2. Nach Auffassung des BGH halten diese Ausführungen des Berufungsgerichts den Angriffen der Revision durch den Ehemann nicht in allen Punkten stand:Mit der Neufassung von § 1570 BGB hat der Gesetzgeber den nachehelichen Betreuungsunterhalt grundlegend umgestaltet und einen auf drei Jahre befristeten Basisunterhalt eingeführt, der aus Billigkeitsgründen verlängert werden kann. Im Rahmen der Billigkeitsabwägung sind kind- und elternbezogene Verlängerungsgründe zu berücksichtigen. Vor dem 3. Lebensjahr des Kindes kann der betreuende Elternteil frei entscheiden, ob Betreuungsmöglichkeiten angenommen werden oder nicht. Ein in dieser Zeit erzieltes Einkommen ist stets überobligatorisch und im Einzelfall anteilig bei der Unterhaltsbemessung zu berücksichtigen (BGH, FamRZ 2005, S. 1154 ff.).Ab Vollendung des 3. Lebensjahres sind Billigkeitsabwägungen vorzunehmen, wobei jedoch kein abrupter Wechsel von der elterlichen Betreuung zu einer Vollzeiterwerbstätigkeit geboten ist. Insoweit ist ein abgestufter Übergang bis hin zu einer Vollzeiterwerbstätigkeit möglich unter Berücksichtigung von kind- und elternbezogenen Gründen. Die Darlegungs- und Beweislast für die Verlängerung des Betreuungsunterhalts über das 3. Lebensjahr hinaus trägt der unterhaltsberechtigte Elternteil. Kindbezogene Verlängerungsgründe haben das stärkste Gewicht. Auf der anderen Seite hat der Gesetzgeber den Vorrang der persönlichen Betreuung gegenüber anderen kindgerechten Betreuungsmöglichkeiten aufgegeben, was auch mit dem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG (Pflege und Erziehung der Kinder) und dem Kindeswohl vereinbar ist (BVerfG, FamRZ 2007, S. 965 ff.). Der BGH verweist weiterhin auf den Anspruch des Kindes auf den Besuch einer Tageseinrichtung (§ 24 Abs. 1 SGB VIII) und den Hilfestellungen des Gesetzgebers Erwerbstätigkeit und Kindererziehung miteinander vereinbaren zu können (§ 22 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII). Bei öffentlichen Betreuungseinrichtungen muss man grundsätzlich von einer kindgerechten Betreuungsmöglichkeit ausgehen. In dem Umfang, in dem das Kind nach Vollendung des 3. Lebensjahres eine solche Einrichtung besucht oder unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnissen besuchen könnte, kann sich der betreuende Elternteil nicht mehr auf die Notwendigkeit einer persönlichen Betreuung des Kindes berufen. Demnach ist immer vorrangig zu prüfen, ob und in welchem Umfang Kindesbetreuung auf andere Weise gesichert oder in kindgerechten Einrichtungen gesichert werden könnte. Auf die Betreuungsbedürftigkeit kommt es erst dann nicht mehr an, wenn das Kind ein Alter erreicht hat, in dem es zeitweise sich selbst überlassen werden kann.Soweit demgegenüber in Rechtsprechung und Literatur zu der seit dem 1. Januar 2008 geltenden Fassung des § 1570 BGB abweichende Auffassungen vertreten werden, die an das frühere Altersphasenmodell anknüpfen und eine Verlängerung des Betreuungsunterhalts allein vom Kindesalter abhängig machen, sind diese im Hinblick auf den eindeutigen Willen des Gesetzgeber nicht haltbar. Selbst dann, wenn die Betreuung anderweitig sichergestellt ist, können sonstige kindbezogene/elternbezogene Gründe einer erhöhten Erwerbsobliegenheit entgegenstehen (Krankheiten des Kindes, gesteigerte nacheheliche Solidarität wegen eines in der Ehe gewachsenen Vertrauens in eine vereinbarte und praktizierte Rollenverteilung bei der Kinderbetreuung). Nach Auffassung des BGH trägt die Entscheidung des Berufungsgerichtes diesen gesetzlichen Vorgaben nicht hinreichend Rechnung. Das Berufungsgericht hat vorrangig auf das Alter des Kindes abgestellt und nicht hinreichend berücksichtigt, dass es bis 16.00 Uhr einen Hort besucht. Damit ist die Betreuung des Kindes zumindest bis 16.00 Uhr sichergestellt, ob das Asthma des Kindes in irgendeiner Weise zusätzliche Betreuungsleistungen erfordert, wurde nicht festgestellt. Ebensowenig wurde festgestellt, ob die Mutter als Lehrerin auch bei vollschichtiger Erwerbstätigkeit über 16.00 Uhr hinaus arbeiten müsste. Das Berufungsgericht hat daher bislang keine kindbezogene oder elternbezogene Gründe für eine Verlängerung des Betreuungsunterhalts festgestellt. Ob der Aspekt einer überobligationsmäßigen Beanspruchung durch vollschichtige Erwerbstätigkeit und Kindesbetreuung (bei Unterbringung im Hort bis 16.00 Uhr) zu einer eingeschränkten Erwerbsobliegenheit führt mag möglich sein, muss jedoch vom Tatrichter festgestellt werden, was im vorliegenden Fall nicht erfolgt ist, da vorrangig auf das Alter des Kindes abgestellt wurde. Aus den genannten Gründen ist daher das Urteil aufzuheben und an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, da die notwendigen Feststellungen zu den aufgeworfenen Fragen noch festgestellt werden müssen.
  3. Der BGH gibt dem Berufungsgericht am Ende seiner Entscheidung noch einige Hinweise für das weitere Verfahren. Zurecht hat das Berufungsgericht eine Begrenzung des Unterhaltsanspruchs gegenwärtig abgelehnt:- Eine Befristung des Betreuungsunterhalts ist nicht schon nach der Systematik des § 1570 BGB geboten. Nur wenn im Zeitpunkt der Entscheidung für die Zeit nach Vollendung des 3. Lebensjahres absehbar keine kind- oder elternbezogene Verlängerungsgründe mehr vorliegen, ist ein künftiger Betreuungsunterhalt abzuweisen.- Eine Befristung des Betreuungsunterhalts nach § 1578 b BGB (neu) scheidet schon deswegen aus, weil § 1570 BGB eine Sonderregelung beim Betreuungsunterhalt für die Billigkeitsabwägung enthält und die Befristung im Rahmen des § 1570 BGB zu prüfen ist. Wenn diese Prüfung dazu führt, dass der Betreuungsunterhalt auch über das 3. Lebensjahr hinaus fortdauert, können diese Gründe nicht zu einer Befristung im Rahmen der Billigkeit nach § 1578 b BGB führen.- Wenn, wie hier nach den Feststellungen des Berufungsgerichts gegenwärtig nicht hinreichend sicher absehbar ist, ob die Ehefrau infolge der Kindererziehung ehebedingte Nachteile erlitten hat oder noch erleiden wird, ist eine Befristung auch unter dem Gesichtspunkt eines Aufstockungsunterhaltsanspruch nicht möglich. - Im vorliegenden Fall hat das Berufungsgericht zurecht auch eine Herabsetzung vom eheangemessenen auf einen angemessenen Unterhalt nach der eigenen Lebensstellung der Frau abgelehnt, da der Umfang ehebedingter Nachteile noch nicht hinreichend feststehe. Grundsätzlich kommt jedoch eine solche Beschränkung und Befristung nach einer Übergangszeit in Betracht, in denen keine ehe- oder erziehungsbedingten Nachteile mehr vorliegen.

 ~

  1. Fazit

Der BGH hat mit dieser ersten zu § 1570 BGB ergangenen Entscheidung ausdrücklich betont, dass eine Verlängerung des Betreuungsunterhalts, allein wegen des Kindesalters, nicht haltbar ist. Der BGH hat damit jeglichem, auch modifiziertem Altersphasenmodell eine Absage erteilt. Zwar hatte die Mehrheit der Oberlandesgerichte dem Willen des Gesetzgebers Rechnung getragen, indem in den Leitlinien keine festen Vorgaben zur Abhängigkeit des Arbeitsumfangs vom Kindesalter getätigt wurden, einige Gerichte haben indes aus dem Urteil des BGH zum Betreuungsunterhalt der Mutter eines nichtehelichen Kindes vom 16.07.2008 (FamRZ 2008, S. 1739 = Report Nr. 118, S. 16/17 mit der dortigen Kritik an einem modifizierten Altersphasenmodell) eine Aufforderung des BGH entnommen doch Fallgruppen zu bilden in Abhängigkeit des Kindesalters und somit zumindest ein modifiziertes Altersphasenmodell weiterhin praktiziert (so OLG Köln, FamRZ 2008, S. 2119. OLG Celle, FF 2009, S. 81, OLG Jena, FamRZ 2008, S. 2203, Leitlinien des OLG Hamm unter 17.1.1., OLG Nürnberg, u. a.). Der BGH strebt auf der einen Seite mit seinem Urteil eine individuellere Gerechtigkeit an, auf der anderen Seite führt dies jedoch immer mehr zu Einzelfallrechtsprechung und der damit verbunden Schwierigkeit der Voraussehbarkeit einer Gerichtsentscheidung. Gerade im Hinblick auf die Vielzahl von Unterhaltsstreitigkeiten wäre ein gewisser Schematismus wünschenswert, sowohl für die Betroffenen als auch für die rechtsberatenden Berufe, auf der anderen Seite hat der Gesetzgeber, was vom BGH bestätigt wurde, für die Zeit ab dem 3. Lebensjahr letztendlich eine individuelle Sichtweise festgelegt. Es ist nunmehr Aufgabe der Berufungsgerichte bzw. des BGH, die Kriterien für die im Einzelfall zu treffende Billigkeitsentscheidung herauszuarbeiten, denn der BGH hat letztendlich nichts anderes gesagt, als dass man am Alter des Kindes die Dauer des Betreuungsunterhaltes nicht festmachen kann, hat jedoch im Hinblick auf die Zurückverweisung die Kriterien und die Entscheidung an das Berufungsgericht zurückgereicht. Es wäre wünschenswert, wenn zeitnah auch bei Betreuungsunterhalt verlässliche und klar abgrenzbare Kriterien festgeschrieben würden, um diesbezüglich insbesondere den Betroffenen eine gewisse Rechtssicherheit/-klarheit zu geben. Man wird jedoch in Zukunft damit leben müssen, dass immer mehr unbestimmte Rechtsbegriffe auszulegen sind und auch von Gerichten sehr individuell und subjektiv ausgelegt werden können. Der BGH, und das ist nunmehr Fakt, hat jedoch ausdrücklich festgeschrieben, dass Gründe für die Verlängerung des Betreuungsunterhaltes vom Unterhaltsberechtigten darzulegen und zu beweisen sind. Dies wird einen höheren Begründungsaufwand für die Geltendmachung eines Betreuungsunterhalts nach sich ziehen. Insbesondere muss der Unterhaltsberechtigte zunächst darlegen und nachweisen, dass eine Betreuung des Kindes in einer kindergerechten Einrichtung nicht möglich ist (Kinderhortplätze), erst dann ist der Unterhaltsverpflichtete angehalten den Gegenbeweis zu führen.

Insgesamt wird gerade das neue Unterhaltsrecht die Gerichte weiterhin beschäftigen, da, wie oben dargelegt, es insbesondere gelingen muss, objektive Kriterien für die vom Gesetzgeber geforderte Billigkeitsabwägung herauszuarbeiten.