BGH, Urteil vom 27.05.2009 - Unterhaltsrecht

  1. Im Rahmen der Bedarfsermittlung beim Ehegattenunterhalt gemäß § 1578 Abs. 1 Satz 1 BGB ist nach der seit dem 1. Januar 2008 geltenden Rechtslage auch ein vom Unterhaltspflichtigen geschuldeter Minderjährigenunterhalt nicht mehr mit dem sog. Tabellenbetrag, sondern mit dem sich nach Abzug des (hälftigen) Kindergelds gemäß § 1612 b Abs. 1 BGB ergebenden Zahlbetrag zu berücksichtigen. § 1612 b Abs. 1 BGB verstößt auch mit dieser Wirkung nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
  2. Wenn einem Ehegatten zwei Wohnungen gehören, können seinem Einkommen entsprechende Wohnvorteile zugerechnet werden. Allerdings kommt eine Kürzung unter Angemessenheitsgesichtspunkten in Betracht.
  3. Vom Eigentümer zu tragende verbrauchsunabhängige Kosten können grundsätzlich nur dann von seinem Wohnvorteil abgezogen werden, wenn es sich um nicht umlagefähige Kosten im Sinne von §§ 556 Abs. 1 BGB, 1, 2 BetrKV handelt (Aufgabe der Senatsrechtsprechung seit Senatsurteil vom 20. Oktober 1999 - XII ZR 297/97 - FamRZ 2000, 351).
  4. Die Darlegungs- und Beweislast für ehebedingte Nachteile im Sinne von § 1578 b BGB ist im Hinblick auf die dem Unterhaltsberechtigten gegenwärtig fehlende Möglichkeit, eine seiner Ausbildung und früheren beruflichen Stellung entsprechende Tätigkeit zu erlangen, vorgreiflich nach § 1577 BGB zu beurteilen und obliegt dem Unterhaltsberechtigten. Gelangt das Familiengericht hier zu der Überzeugung, dass der Unterhaltsgläubiger kein adäquates Einkommen erzielen kann, erübrigt sich insoweit eine erneute Prüfung im Rahmen von § 1578 b BGB.

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Urteil

Gericht         : BGH
Datum           : 27.05.2009
Aktenzeichen    : XII ZR 78/08
Leitparagraph   : BGB §1578 , BGB §1578b , BGB §1612
Quelle          : www.bundesgerichtshof.de
Kommentiert von : RA Simon Heinzel

Inhalt:

Folgender Sachverhalt lag zu Grunde

 

Aus der im Jahr 1978 geschlossenen Ehe der Parteien sind zwei Kinder hervorgegangen. Der Vater hat ein weiteres 2006 geborenes Kind. Die Parteien trennten sich 12/2005 und wurden 11/2007 geschieden. Die Parteien streiten um die Höhe des nachehelichen Unterhalts. Der Ehemann (geboren 1954), Leiter einer Krankenhausapotheke, ist Eigentümer einer ETW und bewohnt noch das gemeinschaftliche Einfamilienhaus. Die Ehefrau (geboren 1959) ist ausgebildete Diätassistentin und seit 2004 selbstständige Ernähungsberaterin. Das Amtsgericht hat einen nachehelichen Unterhalt von 1000 Euro (zzgl. 237 Euro Vorsorgeunterhalt) ausgeurteilt, hiergegen haben beide Parteien Berufung eingelegt, das OLG hat den Unterhalt geringfügig verändert (973 Euro Elementarunterhalt zzgl. 261 Euro Altersvorsorgunterhalt). Hiergegen legt der Ehemann die vom OLG zugelassene Revision ein, mit dem Antrag keinen Unterhalt zu schulden, hilfsweise den Unterhalt zu befristen und auf den angemessenen Lebensbedarf zu begrenzen.

 

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Die Entscheidung des BGH:

 

Auf die Revision hat der BGH das Urteil des OLG aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.

 

Das OLG hatte der Ehefrau nachehelichen Aufstockungsunterhalt (§ 1573 Abs. 2 BGB) zugesprochen und keine Befristung/Begrenzung vorgenommen. Zugrunde gelegt hat das OLG Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit sowie Wohnvorteile aus dem gemeinsamen Haus und der ETW, wobei von dem Wohnwert Zins- und Tilgungsleistungen für das gemeinsame Haus abgezogen wurden, jedoch keine verbrauchsunabhängigen Nebenkosten, wie Grundsteuer, Gebäudeversicherung etc. Bei der Ehefrau ist das OLG statt vom Einkommen aus selbständiger Tätigkeit von einem fiktiven Einkommen aus vollschichtiger nichtselbständiger Tätigkeit ausgegangen, da sie gehalten ist die nicht lukrative selbstständige Tätigkeit aufzugeben um eine besser bezahlte nichtselbständige Tätigkeit aufzunehmen.

 

Das OLG hat des Weiteren den jeweiligen Zahlbetrag des Kindesunterhalts berücksichtigt. Eine Befristung/Beschränkung des Unterhalts wurde nicht durchgeführt, da bei der Ehefrau berufliche Nachteile eingetreten seien und es sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehen ließe, ob und wann diese ehebedingten Nachteile entfallen sein könnten. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Ehefrau im Alter von knapp 50 Jahren wieder eine gehobene leitende Vollzeitstelle finden könne, zudem hätte in der Ehe eine „klassische Rollenverteilung“ vorgelegen, die es verhindert hat, im Alter zwischen 30 und 40 Jahren „Karriere zu machen“. Das OLG weist zwar darauf hin, dass möglicherweise nach ca. 8 Jahren eine Befristung/Herabsetzung möglich sei, dies sei jedoch nicht sicher vorauszusehen. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Prüfung nach Auffassung des BGH nicht in allen Punkten stand:

  • Einkommensermittlung/Wohnwert Der Ansatz des vollen Wohnwertes des gemeinsamen Familienheims ist deshalb nicht gerechtfertigt, da sich die Parteien bereits auf eine Veräußerung geeinigt haben. Der volle Wohnwert ist dann nicht anzusetzen, wenn die Wohnung gemessen an den Einkommensverhältnissen zu groß ist und eine Pflicht zur Verwertung des Wohneigentums (noch) nicht besteht (BGH, FamRZ 2008, S. 963). Dies muss auch gelten, wenn ein Ehegatte Eigentümer mehrerer Objekte ist und die anderweitige Verwertung eines Objekts (noch) nicht zumutbar ist. So liegt es hier. Es ist dem Ehemann nicht zuzumuten z. B. seine ETW zu veräußern, da beabsichtigt ist, das Familienheim zu veräußern und er daher zukünftig seine ETW nutzen wird, sodass die freistehende ETW derzeit „totes Kapital“ ist und daher nicht voll zu berücksichtigen ist. Ein alleiniges Verschulden des Ehemannes an der Nichtveräußerung des Familienheims konnte nicht festgestellt werden. Aus diesen Gründen ist in die Einkommensberechnung nur ein angemessener Wohnwert einzustellen, der sich nach einem angemessenen Mietzins für eine entsprechend kleinere Wohnung errechnet. Nicht zu beanstanden ist hingegen, dass das OLG die verbrauchunabhängigen Nebenkosten (Grundsteuer etc.) nicht vom Wohnwert abgezogen hat. Dies mit der Begründung, dass auch Mieter üblicherweise diese Kosten zu tragen haben (§ 27 Abs. 1 der 2. Berechnungsverordnung). Es kommt darauf an, was sich der Eigentümer gegenüber einem Mieter erspart, dies sind gerade nicht solche umlagefähigen verbrauchsunabhängigen Nebenkosten. Der BGH hat in der Vergangenheit zwischen verbrauchsabhängigen und -unabhängigen Kosten unterschieden (zuletzt BGH, FamRZ 2008, S. 963 u.a.), was in Rechtsprechung und Literatur kritisiert wurde. Der BGH hält nun nicht mehr an der generellen Unterscheidung nach der Verbrauchsabhängigkeit fest, sondern schließt sich der Auffassung an, wonach das Abgrenzungskriterium die Umlagefähigkeit auf Mieter ist.
  • Steuererstattungen Grundsätzlich ist es richtig, geflossene Steuererstattungen für die Folgejahre fortzuschreiben, wenn die Bemessungsgrundlagen sich im Wesentlichen nicht verändern. Wenn durch veränderte Umstände (z. B. Austritt aus der Kirche) bereits feststeht, dass zukünftig sich die Steuererstattung anders darstellt, ist dies mit zu berücksichtigen.
  • Fiktive Einkünfte Der BGH weist darauf hin, dass vor dem Hintergrund der Eigenverantwortung gemäß § 1569 BGB es nicht zu beanstanden ist, dass bei der Ehefrau fiktive Einkünfte eingestellt wurden. Beweispflichtig für hinreichende Erwerbsbemühungen ist die Ehefrau. Aufgrund des Alters sind zwar Abstriche zu machen im Hinblick auf die Höhe des fiktiv erzielbaren Einkommens, grundsätzlich ist jedoch dem OLG Recht zu geben.
  • Vorwegabzug Kindesunterhalt – Zahlbetrag Der BGH bestätigt, dass ab dem 01.01.2008 nicht der Tabellenbetrag der Unterhaltstabellen vor der Berechnung des Ehegattenunterhaltes vom Einkommen des Unterhaltsverpflichteten abzuziehen ist, sondern der tatsächliche Zahlbetrag nach Abzug des hälftigen Kindergeldes. Der BGH führt aus, dass für den Minderjährigenunterhalt von Teilen der Rechtsprechung und Literatur die Ansicht vertreten wird, der Tabellenbetrag müsse abgezogen werden (OLG Düsseldorf, 7. Familiensenat, FamRZ 2009, S. 338, OLG Frankfurt, NJWRR 2009, S. 2, Schürmann, FamRZ 2008, S. 313 u.a.), auf der anderen Seite die überwiegende Auffassung ist, dass der Zahlbetrag abzuziehen ist (OLG Düsseldorf, 2. Familiensenat, FamRZ 2008, S. 1254, OLG Düsseldorf, 6. Familiensenat, OLG Celle, FamRZ 2008, S. 997, OLG Bremen, NJW 2009, S. 925, Borth, Unterhaltsrechtsänderungsgesetz, Rdn. 341, jedoch mit verfassungsrechtlichen Bedenken, Klinkhammer, FamRZ 2008, S. 193, u. a.). Der BGH entscheidet sich für die Rechtsauffassung, wonach der Zahlbetrag abzuziehen ist und begründet dies mit § 1612 b Abs.1 BGB i.V.m. § 1578 Abs. 1 BGB. Der tatsächliche Kindesunterhalt ist eine Vorfrage des Ehegattenunterhaltsbedarfs. Das Kindergeld dient zur Deckung des Barbedarfs des Kindes, steht damit eigenem Einkommen des Kindes gleich und muss daher vorweg abgezogen werden (wie beim Volljährigenunterhalt). Dies entspricht auch dem Regierungsentwurf zum Unterhaltsänderungsgesetz und somit der Absicht des Gesetzgebers (Einzelheiten zur Urteilsbegründung unter www.bundesgerichtshof.de). Der BGH weist noch ausdrücklich darauf hin, dass kein Verstoß gegen Art. 3 GG vorliegt.

Im Ergebnis war wegen einzelner notwendiger Korrekturen der Einkommensermittlung das Urteil aufzuheben und zurückzuverweisen. Zudem sind zusätzliche Altersvorsorgebeträge (4 % vom Bruttoeinkommen) zu überprüfen im Hinblick auf Direktversicherung, Tilgungsanteile der Hauskredite und zusätzlicher vermögenswirksamer Leistungen. Ausdrücklich weist der BGH darauf hin, dass die Berechnung der 4 % zusätzlichen Altersvorsorge nicht auf die Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung beschränkt ist, sondern auf der Grundlage des gesamten Bruttoeinkommens zu berechnen ist. Zudem stellt der BGH klar, dass die abgelehnte Befristung/Herabsetzung nicht zu beanstanden ist, dies wegen der festgestellten ehebedingten beruflichen Nachteile.

 

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Fazit

 

Der BGH hat mit diesem Urteil endlich die Abgrenzung von verbrauchsunabhängigen und -abhängigen Nebenkosten hinsichtlich der Abzugsfähigkeit vom Wohnwert aufgegeben und insoweit Rechtsklarheit geschaffen, dass die Abgrenzung eben danach zu erfolgen hat, was üblicherweise ein Mieter zu tragen hat und was nicht. Zwar haben die unterhaltsrechtlichen Leitlinien eine solche Abgrenzung schon bislang vorgesehen, der BGH hat jetzt erstmalig dies auch zur Grundlage einer seiner Entscheidungen gemacht und somit Rechtsklarheit geschaffen. Im Einzelfall ist der BGH von dem Grundsatz abgewichen, dass nach endgültiger Trennung (Einreichung des Scheidungsantrags) bzw. nach Scheidung immer der volle objektive Mietwert anzusetzen ist. Da im vorliegenden Fall das gemeinsame Familienheim noch nicht endgültig veräußert war, obwohl von beiden Parteien beabsichtigt, und damit auch mit dem „Vorhalten“ der nicht vermieteten zusätzlichen ETW ein „totes Kapital“, welches nicht genutzt wurde, entstanden ist, geht der BGH nur von einem angemessenen Wohnwert aus. Diese Entscheidung ist zu begrüßen, da es nicht zu Lasten einer Partei gehen kann, wenn es nicht zur rechtzeitigen Vermögensauseinandersetzung hinsichtlich des Familienheims kommt (anders wenn die den Wohnwert nutzende Partei eine Veräußerung vorwerfbar verhindert).

 

Die für die Praxis wichtigste Entscheidung ist diejenige, dass der BGH zur Bemessung des Ehegattenunterhaltes beim Einkommen des Unterhaltsverpflichteten nur den tatsächlichen Zahlbetrag des Kindesunterhaltes abzieht und nicht, wie vor dem 01.01.2008, den Tabellenbetrag. Es ist zu bezweifeln, ob allein mit dem Verweis auf die Gesetzesbegründung und den Wortlaut des Gesetzes dieses Ergebnis gerechtfertigt ist. Der Verfasser ist mit der anderen Rechtsauffassung der Meinung, dass damit der Kindergeldausgleich gemäß § 1612 b BGB verfälscht wird, weil der Barunterhaltspflichtige letztendlich die ihm zustehende Kindergeldhälfte anteilig (zur Hälfte im Hinblick auf den Halbteilungsgrundsatz) wieder als Ehegattenunterhalt auskehren muss. (Beispiel: Nettoeinkommen 2000 €, Tabellenbetrag Unterhalt fiktiv 482 € führt zu folgenden Ergebnissen wenn der betreuende Elternteil kein Einkommen erzielt: 1) 2000 € – 482 € = 1518 € : 2 = Unterhalt 759 €~ 2) 2000 – 400 € nach Abzug von hälftigem Kindergeld 82 € = 1600 € : 2 = Unterhalt 800 €). An dem Beispiel sieht man, dass die Differenz der Unterhaltsbeträge 41 € beträgt (die Hälfte des hälftigen Kindergeldes) und somit bei Abzug des Zahlbetrags des Kindesunterhalts letztendlich der andere Ehegatte zusätzlich ein weiteres Viertel vom Kindergeld und somit faktisch ¾ des gesamten Kindergeldes erhält. Dies hält der Verfasser mit gewichtigen Stimmen in der Rechtsprechung für falsch und es bleibt abzuwarten, ob diese Frage nunmehr vom BVerfG geklärt werden muss. Im Anschluss an das hiesige Urteil hat der BGH mit Urteil v. 24.06.2009, Az. XII ZR 161/08, auch bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten entschieden, dass zur Berechnung des Ehegattenunterhaltes der Kindesunterhalt mit dem um das (anteilige) Kindergeld geminderten Zahlbetrag und nicht mit dem Tabellenbetrag abzuziehen ist, und hat somit seine Rechtsprechung nochmals ausdrücklich bekräftigt. Der BGH hat zudem dem Berufungsgericht (OLG Düsseldorf) auf den Weg gegeben, dass die von ihm vertretene verfassungskonforme Auslegung (Abzug Tabellenbetrag) nicht zulässig ist, und es ausschließlich dem Bundesverfassungsgericht obliegt, hierüber zu entscheiden und daher das Berufungsgericht gehalten gewesen wäre nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG das Verfahren auszusetzen und dem BVerfG zur Entscheidung vorzulegen. Der BGH hat für sich zumindest entschieden, dass die gesetzliche Regelung des § 1612 b BGB nicht gegen das Grundgesetz verstößt (Art. 3 GG). Damit wird man wohl zunächst bis zu einer Entscheidung des BVerfG in dieser Frage nicht umhinkommen, in Unterhaltsberechnungen den Zahlbetrag des Kindesunterhalts in Abzug zu bringen (statt des Tabellenbetrags).

 

Die Ablehnung einer Befristung etc. war im vorliegenden Fall eine Einzelfallfrage, wie so häufig im Unterhaltsrecht, sodass aus dem Urteil des BGH hier kaum wegweisende Inhalte entnommen werden können, mit Ausnahme dessen, dass für ehebedingte Nachteile der Unterhaltsberechtigte darlegungs- und beweispflichtig ist, was jedoch schon vor diesem Urteil herrschende Rechtsauffassung war.