BGH, Urteil vom 4.5.2011, Az. XII ZR 70/09 – Barunterhaltspflicht des betreuenden Elternteils, Erwerbsobliegenheit, Kindesunterhalt

Verfügt der ein minderjähriges Kind betreuende Elternteil über ausreichende Mittel, um auch den Barunterhalt zu leisten, ohne seinen angemessenen Selbstbehalt zu gefährden und verbleibt dem anderen, nicht betreuenden Elternteil dieser angemessene Selbstbehalt nicht, ist der betreuende Elternteil ein sogenannter „anderer“ unterhaltspflichtiger Verwandter i. S. d. § 1603 Abs. 2 Satz 3 BGB, mit der Folge, dass der betreuende Elternteil barunterhaltspflichtig ist und der nicht betreuende Elternteil von der Barunterhaltspflicht befreit ist.

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Urteil

 

Gericht         : BGH 
Datum           : 04.05.2011 
Aktenzeichen    : XII ZR 70/09 
Leitparagraph   : BGB §1603 
Quelle          : FuR 2011, S. 458 
Kommentiert von : RA Simon Heinzel 

Inhalt:

Der BGH hat neben formellen Fragen der Abänderung von bestehenden Jugendamtsurkunden entschieden, dass ein unterhaltsverpflichteter, nicht betreuender Elternteil, auch bei gesteigerter Unterhaltspflicht gegenüber minderjährigen Kindern berechtigt ist, eine Erstausbildung auszuüben oder fortzusetzen, auch wenn er damit ein Einkommen erzielt, welches unter dem angemessenen Lebensbedarf/Selbstbehalt liegt und der andere Elternteil ein Einkommen erzielt, welches über diesem angemessenen Selbstbehalt liegt. Den grundsätzlich barunterhaltspflichtigen Elternteil kann der angemessene Selbstbehalt belassen bleiben, wenn der Kindesunterhalt vom betreuenden Elternteil unter Wahrung dessen angemessenen Selbstbehalts gezahlt werden kann und ohne die Beteiligung des betreuenden Elternteils an der Barunterhaltspflicht ein erhebliches finanzielles Ungleichgewicht zwischen den Eltern entstünde.

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Im vorliegenden Fall waren zwei minderjährige Kinder betroffen (12/14 Jahre alt), wobei das ältere beim Vater lebt und das jüngere, weil behindert, im Heim. Die Mutter war bei der Geburt der Kinder 16 bzw. 18 Jahre alt und hat ihren Hauptschulabschluss erst nach der Geburt des ersten Kindes nachgeholt. Zum hier streitrelevanten Zeitraum hat die nicht betreuende Mutter ihre erste Berufsausbildung absolviert und konnte mit der Ausbildungsvergütung und einer Nebentätigkeit ihren eigenen angemessen Lebensunterhalt nicht decken. Der Vater verfügt über ein monatliches Nettoeinkommen zwischen 1600 und 1900 Euro.

 

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Der BGH hat hervorgehoben, dass die Gleichwertigkeit von Betreuung und Barunterhalt nicht uneingeschränkt gilt und auch der betreuende Elternteil zum Barunterhalt herangezogen werden kann. Es handelt sich hier um einen Spezialfall, weil der nicht betreuende Elternteil berechtigterweise unter dem angemessenen Selbstbehalt lag. Dies wurde damit begründet, dass auch dem grundsätzlich Barunterhaltspflichtigen es gestattet sein muss, eine Erstausbildung zu absolvieren, weil damit zu rechnen ist, dass dann nach der Ausbildung der Unterhalt der Kinder „gesicherter“ ist. Ob sich das tatsächlich bewahrheitet, bleibt abzuwarten. Der BGH hat diese Sichtweise auch damit begründet, dass der Kindsvater ein Einkommen erzielt hat, welches unter Berücksichtigung des Kindesunterhalts ihm trotzdem noch den angemessenen Selbstbehalt belässt. Hätte der betreuende Elternteil (hier: der Vater) kein solches Einkommen, wäre die Entscheidung wohl anders ausgefallen, man hätte die barunterhaltspflichtige Mutter auf fiktive Einkünfte gesetzt. Im vorliegenden Fall dürfte es sich um einen Grenzfall handeln (siehe auch Praxishinweis zu dieser Entscheidung in FuR 2011, S. 463). Ausdrücklich sei auch darauf hingewiesen, dass, wenn der nicht betreuende Elternteil seinen angemessenen Selbstbehalt wahren kann, die Voraussetzungen für ein wirtschaftliches Ungleichgewicht, welches die Barunterhaltspflicht des nicht betreuenden Elternteils entfallen lassen kann, wesentlich strenger sind. So wird in der Rechtsprechung ein doppeltes Einkommen des betreuenden Elternteiles vorausgesetzt, um eine Barunterhaltspflicht des betreuenden Elternteiles festzustellen (OLG Brandenburg, NJW 2007, S. 85). In der Literatur wird sogar ein dreifach so hohes Einkommen des betreuenden Elternteiles verlangt (Büttner, FamRZ 2002, S. 743). Andere Gerichte hingegen verlangen eine Einkommensdifferenz von „lediglich“ 1000 Euro (OLG Nürnberg, NJW-RR 2008, S. 884). Feste Werte, ab wann der betreuende Elternteil zum Barunterhalt mitverpflichtet wird, gibt es nicht. Auch haben es die Oberlandesgerichte bisher unterlassen, sich in ihren Leitlinien festzulegen. Als Anhaltspunkt dienen die obigen Entscheidungen.