BVerfG (2. Kammer), Beschluss vom 27.06.2008 - Innerstaatliche Kindesentführung

Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine familiengerichtliche Eilentscheidung, wenn ein Elternteil das gemeinsame Kind an lässlich der Trennung eigenmächtig und unter Verletzung der Mitsorge des anderen Elternteils aus seinem bisherigen örtlichen und sozialen Umfeld herausreißt (Leitsatz der ZKJ).

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Urteil

Gericht         : BVerfG 
Datum           : 27.06.2008 
Aktenzeichen    : BvR 1265/08 
Leitparagraph   : GG Art. 6, GG Art. 1, BGB §1671 
Quelle          : ZKJ 2008, S. 378 
Kommentiert von : RA Georg Rixe 

Inhalt:

Folgender Sachverhalt lag zugrunde:

Aus der Elle des Bf. und der Kindesmutter ging die im Juli 2003 geborene Tochter hervor, die hauptsächlich vom Bf. betreut wurde. Am 20.7.2007 verließ die Mutter mit dem Kind ohne Wissen und Zustimmung des Bf. die gemeinsame Wohnung und verzog zu ihrer eigenen Mutter nach S.

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Mit der angegriffenen einstweiligen Anordnung vom 27.12.2007 übertrug das AG vorläufig der Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind, da dies seinem Wohl am Besten entspreche (§ 1671 II, Nr. 2 BGB). Nach Auffassung des AG ergab sich weder aus dem Willen und den Bindungen des Kindes noch aus den zeitlichen Betreuungsmöglichkeiten eine Präferenz für den Aufenthalt des Kindes bei einem Elternteil. Auch im Hinblick auf die Erziehungseignung bestünden keine offenkundigen Unterschiede. Ausschlaggebend sei aber der Gesichtspunkt der ""vorläufigen Kontinuität"", da die Tochter seit nunmehr zwei Monaten im Haushalt der Mutter lebe. Auch wenn das Gericht das eigenmächtige Handeln der Mutter nicht billige, solle ein mehrfacher Wechsel zum Wohle des Kindes vermieden werden. Zur Frage, bei welchem Elternteil das Kind endgültig seinen Aufenthalt haben solle, habe das Gericht ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben.

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Die vom Bf. eingelegte Beschwerde wies das OLG mit dem angegriffenen Beschluss vom 4.3.2008 als unbegründet zurück. Es entspreche der ständigen Rechtsprechung des Senats, dass die hier bereits vollzogene amtsgerichtliche Entscheidung zur elterlichen Sorge im Beschwerdeverfahren nur dann abgeändert werden könne, wenn für den verbleibenden Zeitraum bis zur abschließenden Klärung im Hauptsacheverfahren eine Gefährdung des Kindeswohls oder die Gefahr sonstiger schwerwiegender Unzulänglichkeiten für die Versorgung des Kindes bestünde. Diese läge aber nicht vor. Dem Kind sei ein erneuter Wechsel für den in der Regel kurzen Zeitraum bis zum Erlass der Hauptsacheentscheidung nicht zumutbar.

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Das BVerfG begründet seine Entscheidung wie folgt

Das BVerfG nahm die vom Bf. persönlich eingelegte Beschwerde nicht zur Entscheidung an, weil sie nicht hinreichend begründet war.

  1. Ungeachtet dessen stellte es jedoch fest, dass das AG mit dem angefochtenen Beschluss das Elternrecht des Bf. verletzt habe. Für den Fall, dass die Voraussetzungen für eine gemeinsame Wahrnehmung der elterlichen Sorge fehlen, bedarf das Elternrecht nach der Rechtsprechung des BVerfG der gesetzlichen Ausgestaltung (vgl. BVerfGE 92, 158, 178 f.~ 107, 150, 169). Dem dient § 1671 I i.V.m. II Nr. 2BGB, der bestimmt, dass einem Elternteil auf Antrag die elterliche Sorge oder ein Teil der elterlichen Sorge – wie beispielsweise das Aufenthaltsbestimmungsrecht – allein zu übertragen ist, wenn zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Bei der Anwendung dieser Vorschrift haben die Gerichte eine Entscheidung zu treffen, die sowohl die beiderseitigen Grundrechtspositionen der Eltern als auch das Wohl des Kindes und dessen Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigt (vgl. BVerfGE 31, 194, 206 f.~ 64, 180, 188). Die Gerichte müssen sich daher im Einzelfall um einen angemessenen Ausgleich der verschiedenen Grundrechte bemühen.

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Im Falle einstweiliger Sorgerechtsregelungen ist ferner zu berücksichtigen, dass hierdurch faktisch die endgültige Sorgerechtsentscheidung beeinflusst werden kann. Deshalb ist die Abwägung aller Umstände des Einzelfalls erforderlich. Diese ist vorrangig am Kindeswohl zu orientieren, nicht aber an einer Sanktionierung des Fehlverhaltens eines Elternteils (BVerfG, FamRZ 2007, 1626). Nimmt indes ein Elternteil anlässlich der Trennung ein gemeinsames Kind eigenmächtig mit, so ist häufig zweifelhaft, ob die spontane Herausnahme des Kindes aus seinem bisherigen Lebenskreis in eine neue Umgebung seinem Wohl dient. Es wird vielfach wahrscheinlicher sein, dass gerade in der ersten Phase der räumlichen Trennung der Eltern das Kind besser in seiner alten Umgebung aufgehoben ist, jedenfalls dann, wenn der in der elterlichen Wohnung verbleibende Elternteil die Betreuung des Kindes selbst übernehmen will und dazu auch in der Lage ist (vgl. dazu BVerfGE 57, 361, 387).

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Diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben entsprach der angegriffene Beschluss des AG nicht, da es seine Entscheidung nur auf den Gesichtspunkt einer ""vorläufigen Kontinuität"" gestützt hat, ohne alle bedeutsamen Umstände des Einzelfalls zu erwägen. Das AG hat nicht berücksichtigt, dass der Kontinuitätsgrundsatz für den Bf. streitet, der das Kind überwiegend betreut hat. Es hat diesen Umstand nicht abgewogen mit der von der Mutter ertrotzten vorläufigen Kontinuität. Es hat lediglich das Verhalten der Mutter nicht gebilligt, ohne aber darauf einzugehen, dass ein solches Verhalten eines Elternteils, der plötzlich den Aufenthalt eines Kindes dauerhaft und ohne vorherige Absprache mit dem anderen mitsorgeberechtigten Elternteil verändert, ein gewichtiger Aspekt im Rahmen der Beurteilung der Erziehungseignung eines Elternteils ist, die das Gericht auch schon im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes vorläufig beurteilen muss. Da sich eine einstweilige Sorgerechtsentscheidung regelmäßig faktisch zu Gunsten des Elternteils auswirkt, der das Kind bei der Trennung eigenmächtig mitnimmt, darf der Umstand der ertrotzten Kontinuität nicht erst im Hauptsacheverfahren, sondern muss schon im Eilverfahren angemessen berücksichtigt werden. Gerade wenn das Kind – wie hier – plötzlich aus der Obhut seines bislang hauptsächlich betreuenden Elternteils entrissen und aus seinem bisherigen örtlichen und sozialen Umfeld entfernt wird, entspricht die rasche Rückkehr des Kindes an den Ort seines gewöhnlichen Aufenthalts regelmäßig dem Kindeswohl.

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Die Perspektive einer solchen Rückkehr des Kindes hängt allerdings eng mit der Verfahrensdauer zusammen, da mit jeder Verfahrensverzögerung die Entfremdung zwischen dem zurückgelassenen Elternteil und dem Kind fortschreitet und die ertrotzte Kontinuität verstärkt. Es ist deshalb – im Einzelfall wie auch unter generalpräventiven Aspekten – von großer Bedeutung, in Fällen wie dem vorliegenden Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz vorrangig und beschleunigt zu bearbeiten, um zu vermeiden, dass der eigenmächtig handelnde Elternteil aus seinem Verhalten ungerechtfertigte Vorteile ziehen kann. Das bedingt eine unverzügliche und kurzfristige Terminierung der Sache.

  1. Die Verfassungsbeschwerde wurde aber nicht zur Entscheidung angenommen, weil die verfassungswidrige Entscheidung des AG durch die Entscheidung des OLG prozessual überholt war, die der Bf. aber nicht hinreichend angegriffen hatte.

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Nach Auffassung des BVerfG ist die – verbreitete – Rechtsprechung des OLG sehr zweifelhaft, wonach eine vollzogene amtsgerichtliche Eilentscheidung zur elterlichen Sorge generell nicht abzuändern ist, sondern nur im Falle einer Kindeswohlgefährdung. Eine solche schematische Begrenzung des Prüfungsmaßstabs des Beschwerdegerichts könne sich einerseits nicht auf das Verfahrensrecht stützen, andererseits die kindeswohlwidrige Folge haben, dass dem Kind die Betreuung durch den bisherigen – nach vorläufiger Würdigung erziehungsgeeigneteren – Elternteil versagt bleibt. Da der Bf. insoweit aber keine ausreichenden Rügen vorgebracht hatte, war der Verfassungsbeschwerde insgesamt der Erfolg versagt.

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Fazit

Das BVerfG beschäftigt sich trotz Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde eingehend mit der gängigen Praxis, nach der ein Elternteil unter Verletzung des Mitsorgerechts des anderen aus der gemeinsamen Wohnung auszieht und einen neuen Wohnsitz begründet, an dem ihm dann häufig auf seinen Antrag vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrecht übertragen wird. Schon aufgrund der durch die Dauer des Verfahrens geschaffenen Kontinuität erhält er regelmäßig auch endgültig das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Das BVerfG beanstandet diese Praxis mit zutreffenden Erwägungen und gibt die Maßstäbe für eine verfassungskonforme Beurteilung vor.

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Die vom BVerfG ebenfalls angesprochenen generalpräventiven Erwägungen zur Verhinderung solcher Kindesentführungen geben dem Gesetzgeber erneut Veranlassung, eine vergleichbare Regelung wie für Fälle internationaler Kindesentführungen vorzusehen, die auch durch die FGG-Reform nicht geschaffen worden ist. Nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführungen vom 25. 10. 1980 ist ein entführtes Kind unverzüglich in den bisherigen Aufenthaltsstaat zurückzuführen, damit dort über das Sorgerecht entschieden werden kann. Im Rahmen der FGG-Reform ist allerdings vorgesehen, dass das für den allgemeinen Aufenthalt des Kindes zuständige Gericht das Verfahren an das Gericht des früheren Aufenthaltsorts abgeben kann, wenn ein Elternteil diesen ohne vorherige Zustimmung des anderen geändert hat und diesem ebenfalls das Aufenthaltsbestimmungsrecht zusteht. Soweit das BVerfG darauf hingewiesen hat, dass gerade auch in Fällen von Kindesentführungen Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zügig und vorrangig zu bearbeiten sind, hat dem nunmehr die Neuregelung des § 50 e FGG durch das am 12.7.2008 in Kraft getretene Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls Rechnung getragen. Die Praxis ist deshalb aufgerufen, diese Vorschrift effektiv umzusetzen.