BVerfG (2. Kammer), Beschluss vom 27.6.2008 – Sorgerecht

In Sorgerechtsabänderungsverfahren fordert das Elternrecht des Art. 6 II GG die ausreichende Berücksichtigung des Willens eines 11-jähringen Kindes, das in den Haushalt des Vaters wechseln möchte.

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Urteil

Gericht         : BVerfG 
Datum           : 27.06.2008 
Aktenzeichen    : 1 BvR 311/08 
Leitparagraph   : BGB §1615, BGB §1610, BGB §1570 
Quelle          : FamRZ 2008, Seite 1739 ff 
Kommentiert von : RA Georg Rixe 

Inhalt:

Folgender Sachverhalt lag zu Grunde

 

Aus der geschiedenen Ehe des Bf. und der Kindesmutter ging der im Juli 1996 geborene Sohn hervor. Nach Trennung der Eltern lebte das Kind bei der Mutter. Später zog sie mit ihm und ihrem neuen Lebensgefährten in eine andere Stadt. Seither äußerte das Kind den Wunsch, zum Vater ziehen zu wollen, weil er das Vertrauen zu seiner Mutter verloren habe, die ihn hinsichtlich des Umzugs vor vollendete Tatsachen gestellt habe.

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Auf Antrag des Kindesvaters übertrug das AG ihm mit Beschluss vom 17.7.2007 das Aufenthaltsbestimmungsrecht für seinen Sohn. Zur Begründung führte es insbesondere aus, dass der seit längerer Zeit kontinuierlich geäußerte Wechselwunsch des Kindes maßgeblich zu berücksichtigen sei. Eine Sachverständige habe in einem früheren Verfahren bereits festgestellt, dass das Kind auf Grund seines sehr guten intellektuellen Entwicklungsstands die Konsequenzen seiner Äußerung auch für die Zukunft überschauen könne.

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Mit dem angegriffenen Beschluss vom 30.10.2007 hob das OLG die amtsgerichtliche Entscheidung auf. Nach seiner Auffassung lagen keine triftigen, das Kindeswohl nachhaltig berührenden Gründe gem. § 1696 I BGB vor. Dem Gesichtspunkt der Kontinuität komme bei einer Abänderungsentscheidung erhöhte Bedeutung zu. Die gegenwärtige häusliche und schulische Situation entspreche dem Wohl des Kindes. Sein Wille rechtfertige einen Wechsel zum Vater nicht, da er im Wesentlichen Ausdruck der Unzufriedenheit mit seiner Situation sei, nicht aber eine wesentlich engere emotionale Bindung zum Vater belege. Hierzu habe das Kind in seiner Anhörung auf Nachfrage auch keine weiteren Angaben machen können. Weiterhin spiegele sich der vom Kind geäußerte Wechselwunsch nicht in seinem alltäglichen Leben wieder. Das BVerfG gab der vom Verfasser für den Kindesvater eingelegten Verfassungsbeschwerde statt.

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Das BVerfG begründet seine Entscheidung wie folgt

Das BVerfG hob hervor, dass im Sorgerechtsverfahren der Wille des Kindes zu berücksichtigen ist, soweit das mit seinem Wohl vereinbar ist (vgl.: BVerfGE 55, 171, 182). Jede gerichtliche Lösung eines Konflikts zwischen den Eltern, die sich auf die Zukunft des Kindes auswirkt, muss nicht nur auf das Wohl des Kindes ausgerichtet sein, sondern das Kind auch in seiner Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigen. Denn die sorgerechtliche Regelung nimmt entscheidenden Einfluss auf das weitere Leben des Kindes und betrifft es daher unmittelbar (vgl.: BVerfGE 37, 217, 252~ 55, 171, 179). Hierzu gehört, dass der vom Kind auf Grund seines persönlichen Empfindens und seiner eigenen Meinung geäußerte Wille als Ausdruck seines Rechts auf Selbstbestimmung bei der Entscheidung über den künftigen Aufenthalt hinreichend berücksichtigt wird. Hat der Kindeswille bei einem Kleinkind noch eher geringeres Gewicht, kommt ihm mit zunehmenden Alter und Einsichtsfähigkeit des Kindes vermehrt Bedeutung zu (BVerfG, FamRZ 2007, 105, 106~ FamRZ 2007, 1078, 1079). Ein vom Kind geäußerter Wille kann ferner Ausdruck von Bindungen zu einem Elternteil sein, die es geboten erscheinen lassen können, ihm nachzukommen (vgl.: BVerfGE 55, 171, 180, 182 f.~ BVerfG, FamRZ 2007, 1797, 1798). Hat ein Kind zu einem Elternteil eine stärkere innere Beziehung entwickelt, muss dies bei der Sorgerechtsentscheidung berücksichtigt werden (vgl.: BVerfGE 55, 171, 184).

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Diese Maßstäbe hat das OLG nach Auffassung des BVerfG nicht hinreichend berücksichtigt, weil es die Bedeutung des Wechselwillens eines überdurchschnittlich entwickelten 11-jährigen Kindes verkannt hat. Soweit das OLG in Frage stellt, ob die fehlende Einbeziehung des Kindes in die Umzugsentscheidung wegen des zwischenzeitlichen Zeitablaufs weiterhin die Annahme eines dauerhaften Vertrauensverlustes rechtfertigen könne, hätte das OLG prüfen müssen, ob sich angesichts des fortschreitenden Alters des Kindes sein Vertrauensverlust nicht noch vergrößert hat. Der Erwägung des OLG, das Kind habe seine Aussage nicht näher begründen können, sich im Haushalt des Vaters wohler zu fühlen und zu diesem ein besseres Verhältnis zu haben, setzt das BVerfG entgegen, dass eine gefühlsmäßige Bindung nicht immer – und wenn, dann nur teilweise – rational erfasst und begründet werden kann, weil sie – wie der Bf. zu Recht ausführe – ein innerer Umstand ist. Soweit das OLG zudem darauf abstellt, dass der geäußerte Wechselwunsch des Kindes sich nicht in seinem alltäglichen Leben widerspiegele, sah das BVerfG diese Einschätzung nicht als ausreichend belegt an. Denn es sei nicht geprüft worden, ob und warum die schulischen Leistungen nachgelassen haben, zumal das Kind noch in der 10. Klasse als hochbegabt eingeschätzt worden war. Das OLG habe des Weiteren der Willensäußerung des Kindes als Ausdruck seiner Selbstbestimmung nicht hinreichendes Gewicht beigemessen, obwohl es seinen Wunsch nachvollziehbar und ohne festgestellte Beeinflussung geäußert habe. Der Wille des Kindes spiele bei ausreichender Verstandesreife gerade dann eine gewichtige Rolle, wenn beide Eltern – wie hier – annähernd gleich erziehungsgeeignet seien. Soweit das OLG schließlich argumentiert, dass im alltäglichen Leben des Kindes nicht deutlich werde, dass es wegen der Ablehnung seines Wechselwunsches resigniere oder eine Verweigerungshaltung einnehme, verkennt es nach Auffassung des BVerfG, dass nicht erst psychische Schäden entstanden sein müssen, bis der Wille des Kindes zu beachten ist.

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Fazit

Das BVerfG betont mit der dargestellten Entscheidung das Gewicht der Willensäußerung eines hinreichend verstandesreifen Kindes im Hinblick auf seinen künftigen Lebensmittelpunkt. Es hebt hervor, dass der Wille des Kindes Ausdruck seiner Bindungen zu seinen Elternteilen und – abhängig von seinem Alter und seiner Einsichtsfähigkeit – Ausdruck seines Selbstbestimmungsrechts ist. Das BVerfG stärkt demnach mit dieser Rechtsprechung das Persönlichkeitsrecht des Kindes. Es soll regelmäßig bei dem Elternteil leben, bei dem es sich entsprechend seinen beachtlichen Wünschen am Besten aufgehoben fühlt. Die vom OLG hervorgehobenen Kontinuitätsgesichtspunkte müssen deshalb regelmäßig zurücktreten. Weiterhin ist festzuhalten, dass das BVerfG in Fällen, in denen es um einen Wechsel des Kindes zum anderen Elternteil geht, einen strengeren Kontrollmaßstab anlegt, der zu einer detaillierteren Überprüfung der Argumentation der Fachgerichte führt.

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Nach Zurückverweisung und erneuter Anhörung des Kindes hielt das OLG einen Wechsel des Kindes zum Vater für erforderlich. Die Eltern haben auf dieser Grundlage ein gemeinsames Sorgerecht mit einem Lebensmittelpunkt des Kindes beim Vater vereinbart.