BVerfG, Beschluss vom 25.1.2011 - Ehegattenunterhalt

Die zur Auslegung des § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB entwickelte Rechtsprechung zu den „wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen“ unter Anwendung der Berechnungsmethode der sogenannten Dreiteilung löst sich von dem Konzept des Gesetzgebers zur Berechnung des nachehelichen Unterhalts und ersetzt es durch ein eigenes Modell. Mit diesem Systemwechsel überschreitet sie die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung und verletzt Art. 2 I GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG).

Urteil

Gericht         : BVerfG 
Datum           : 25.01.2011 
Aktenzeichen    : BvR 918/10 
Leitparagraph   : BGB §1578 
Quelle          : FamRZ 2011, S. 437 
Kommentiert von : RA Simon Heinzel 

Inhalt:

Folgender Sachverhalt lag zugrunde:

 

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die vom BGH zur Auslegung des § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB entwickelte Rechtsprechung zu den „wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen“ unter Anwendung der Berechnungsmethode der sogenannten Dreiteilung zur Feststellung des nachehelichen Unterhaltsbedarfs.

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Um die entscheidenden Aussagen der Entscheidung des BVerfG zu verstehen, muss vorausgeschickt werden, dass das Maß des nachehelich zu gewährenden Unterhaltes und die sogenannten ehelichen Lebensverhältnisse wiederholt gesetzlichen Änderungen unterworfen war.

Normiert sind die ehelichen Lebensverhältnisse letztendlich seit dem Jahr 1977 in § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB. Zur Bestimmung der individuellen Lebensverhältnisse der Ehe war maßgeblich der Zeitpunkt der Rechtskraft der Ehescheidung. Veränderungen nach der Scheidung wurden berücksichtigt, wenn sie zum Zeitpunkt der Scheidung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten gewesen waren und deren Erwartung die ehelichen Lebensverhältnisse bereits geprägt hatten (BGH, FamRZ 1986, S. 148 ff.: Normale Einkommensentwicklungen nach der Scheidung sind eheprägend, vom Normalverlauf erheblich abweichende Einkommensentwicklungen – Karrieresprung – sind nicht eheprägend). Später hat der BGH auch solche Einkünfte als prägend angesehen, die nach der Scheidung von demjenigen Ehegatten erzielt wurden, der während der Ehe die Haushaltsführung und Kinderbetreuung übernommen hatte (BGH, FamRZ 2001. S. 986).

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Im Jahr 2003 hat der BGH dann begonnen, die bisherige, im Wesentlichen am Stichtag der Rechtskraft der Scheidung orientierte Rechtsprechung zur Bestimmung des Unterhaltsmaßes aufzugeben. Der BGH ging davon aus, dass die für die Höhe des Unterhaltsbedarfs maßgeblichen Lebensverhältnisse einer geschiedenen Ehe Veränderungen unabhängig davon erfahren können, ob diese in der Ehe angelegt waren und damit eine Anbindung an die vormaligen ehelichen Lebensverhältnisse besitzen (BGH, FamRZ 2003, S. 590~ BGH, FamRZ 2006, S. 683~ BGH, FamRZ 2007, S. 793). Nach dieser geänderten Rechtsprechung des BGH begründen die ehelichen Lebensverhältnisse keine unverändert fortschreitende Lebensstandardgarantie, sondern die ehelichen Lebensverhältnisse sind wandelbar und passen sich dauerhaft veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen an, soweit es sich bei Einkommenserhöhungen um keine unerwartete, mit der Ehe nicht zusammenhängende Entwicklung handelt (Stichwort: Karrieresprung), bei Einkommensminderungen es sich um kein unterhaltsbezogen leichtfertiges Verhalten handelt. Es kommt nicht darauf an, ob diese Veränderungen in der Trennungszeit, bei Scheidung oder erst nach der Scheidung eintraten (so auch BGH, FamRZ 2008, S. 968: Auch nach Rechtskraft der Scheidung entstehende Unterhaltspflichten gegenüber Kindern sind „eheprägend“.) Erstmals mit Urteil vom 30.7.2008 (BGH, FamRZ 2008, S. 1911) hat der BGH auch eine Unterhaltspflicht gegenüber einem neuen Ehepartner in die Bemessung des Unterhaltsbedarfes des vorangegangenen, geschiedenen Ehegatten miteinbezogen. Der BGH hat auch mit Urteil vom 18.11.2009, XII ZR 65/09 (BGH, FamRZ 2010, S. 111), bekräftigt, dass auch neu hinzutretende Unterhaltspflichten gegenüber einem neuen Ehegatten die wandelbaren ehelichen Lebensverhältnisse bestimmen, mit der Folge, dass bei diesen Fallkonstellationen zur Berechnung des Unterhalts die sog. Drittelteilung eingeführt wurde. Danach wird der Bedarf aller drei Beteiligter (Unterhaltspflichtiger und zwei Unterhaltsberechtigte) durch die Addition aller Einkünfte, geteilt durch drei ermittelt. Anschließend das jeweilige Eigeneinkommen in Abzug gebracht, dies ergibt die Höhe des Unterhalts.

Als Berechnungsformel wird vereinfacht bei 2 Ehegatten (F1 und F2) und einem Pflichtigen (M) der Bedarf wie folgt errechnet:

Bedarf:

1/3 (Einkommen M + Einkommen F1 + Einkommen F2).

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Höhe (= Bedürftigkeit) F1:

Bedarf abzüglich Eigeneinkommen F1

Höhe F2:

Bedarf abzüglich Eigeneinkommen F2

In der fachwissenschaftlichen Literatur hat diese Rechtsprechung des BGH zur Auslegung des § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB teilweise Zustimmung (Gerhardt, FamRZ 2007, S. 945 ff., Gutdeutsch, FamRZ 2010, S. 1874 ff., Kemper, FuR 2009, S. 372 ff., Klinkhammer, FF 2009, S. 140 ff.), aber auch Kritik erhalten (Borth, FamRZ 2006, S. 852 ff., Brudermüller, FF 2010, S. 134 ff., Graba, FamRZ 2010, S. 1131 ff., u. a.). Seitens der Befürworter wird vertreten, die Bemessung des Unterhaltsbedarfs nach den sogenannten wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen werde der Lebenswirklichkeit besser gerecht, dies auch im Lichte der Rangverhältnisse der Unterhaltsansprüche gemäß § 1609 BGB in der Fassung seit der Unterhaltsrechtsreform zum 1.1.2008. Nach Ansicht der Kritiker schließt der Wortlaut des § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB aus, dass nacheheliche Änderungen in die Bedarfsbemessung einzubeziehen sind, denen jeglicher Bezug zu der früheren Ehe fehlt, zumal mit der Unterhaltsrechtsreform zum 1.1.2008 gerade keine Gesetzesänderung in § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB erfolgt ist.

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Auch mit der Verfassungsbeschwerde werden gerade diese Punkte aufgegriffen, die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG. Die Rechtsprechung der wandelbaren Lebensverhältnisse verbunden mit der Dreiteilungsmethode des BGH überschreite die Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung und verletze die allgemeine Handlungsfreiheit.

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Zu dem Verfahren haben der BGH selbst, die Wissenschaftliche Vereinigung für Familienrecht, der Interessenverband Unterhalt und Familienrecht, der Deutsche Familiengerichtstag, der Deutsche Juristinnenbund, der Verband alleinerziehender Mütter und Väter sowie der Kläger des Ausgangsverfahrens Stellung genommen.

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Das BVerfG hat die Rechtsprechung zu den wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen unter Anwendung der Berechnungsmethode der sogenannten Dreiteilung für verfassungswidrig erklärt.

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Die Entscheidung des BVerfG:

 

Die doch sehr juristisch geprägten Ausführungen des BVerfG zur Begründung der Entscheidung sollen hier nicht näher erläutert werden, der Verfasser beschränkt sich auf die zentralen Rechtssätze der Entscheidung:

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  • Das BVerfG interpretiert den Begriff „eheliche Lebensverhältnisse“ klassisch, danach sind die die ehelichen Lebensverhältnisse prägenden Einkünfte – unabhängig von der Rollenverteilung in der Ehe – jedem Ehegatten hälftig zuzuordnen.
  • Aufgrund der mit der Unterhaltsrechtsreform zum 1.1.2008 eingeführten verschärften Eigenverantwortung, der Befristung sowie Begrenzung des nachehelichen Unterhalts und der geänderten Rangfolge der Unterhaltsberechtigten hat der Gesetzgeber den Vorrang des geschiedenen Ehegatten abgebaut und damit der Gleichrangigkeit der Ehen hinreichend Rechnung getragen.
  • Die Unterhaltsrechtsreform hat in Bezug auf das Unterhaltsmaß an den individuellen Einkommensverhältnissen und der hälftigen Teilhabe der Ehegatten festgehalten.
  • Die Feststellung des Gesetzgebers im Rahmen der Unterhaltsrechtsreform, wonach der geschiedene Ehepartner dahingehend keinen Vertrauensschutz genieße, dass sich der Kreis der unterhaltsberechtigten Personen nach der Scheidung nicht mehr erweitere, hat sich auf die Verteilung der verfügbaren Mittel im Mangelfall gemäß § 1609 BGB bezogen, nicht auf die Bestimmung des Bedarfs nach § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB, da insoweit das Gesetz nicht geändert wurde.
  • Mit der Berücksichtigung von nachehelich entstandenen Unterhaltsansprüchen aus einer neuen Ehe bei der Bedarfsermittlung der vorangegangenen Ehe verliert die Auslegung zu § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB jeglichen Bezug zum Begriff der ehelichen Lebensverhältnisse, weil deren Bestand von der Auflösung der vorangehenden Ehe abhängig ist.

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Das BVerfG führt weiter aus, dass mit der Dreiteilungsmethode der BGH ein eigenes Berechnungsmodell entwickelt hat, welches sich nicht mehr an die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung hält. Mit diesem Systemwechsel überschreitet der BGH die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung. Das BVerfG hält fest, dass die Dreiteilungsmethode sich mit keiner der anerkannten Auslegungsmethoden rechtfertigen lässt und insbesondere auch den klaren Wortlaut des § 1578 Abs. 1 S. BGB zuwiderläuft.

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Das der Entscheidung des BVerfG zugrundeliegende Urteil ist deshalb aufzuheben und zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen. Für Unterhaltstitel, die nicht Gegenstand des Verfassungsbeschwerdeverfahren waren, folgt eine auf die Zukunft beschränkte Rechtsfolgenwirkung gemäß § 238 Abs. 3 FamFG (bzw. § 323 Abs. 3 ZPO), d. h. dass Entscheidungen, die nach der Dreiteilungsmethode ergangen sind für die Zukunft durch Abänderungsantrag abgeändert werden können, wenn durch die Nichtanwendung der Dreiteilungsmethode sich ein anderer Unterhalt errechnet (Beachtung der Wesentlichkeitsgrenze von 10 %). Ob sich bei Nichtanwendung der Dreiteilungsmethode ein anderer Unterhalt errechnet, wird nach der Entscheidung des BVerfG äußerst kontrovers diskutiert (siehe Fazit).

Weiterhin ist darauf hinzuweisen, dass die Entscheidung des BVerfG mit 5:3 Richterstimmen ergangen ist, somit auch im höchsten deutschen Gericht unterschiedliche Rechtsauffassungen vertreten wurden, ebenso wie die Stellungnahmen der beteiligten Verbände etc. unterschiedlich ausgefallen sind (Verfassungswidrigkeit der Dreiteilungsmethode: Deutscher Familiengerichtstag, Deutscher Juristinnenbund, Verband alleinerziehender Mütter und Väter / keine Verfassungswidrigkeit der Dreiteilungsmethode: Wissenschaftliche Vereinigung für Familienrecht, Interessenverband Unterhalt und Familienrecht, BGH).

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Fazit

Zumindest in der juristischen Fachwelt hat die Entscheidung des BVerfG vom 25.1.2011 eine selten dagewesene Reaktion hervorgerufen, wohl auch deshalb, weil das BVerfG mit seltener Klarheit eine Rechtsprechung des BGH für verfassungswidrig erklärt hat. Die Entscheidung wird daher auch mit „Paukenschlag“ (Borth, FamRZ 2011, S. 445), „Ohrfeige für den BGH“ (Heiß, Bayerischer Anwaltbrief, März 2011, S. 4) oder „Prügel aus Karlsruhe“ (Focus, vom 18.2.2011) kommentiert. Die renommierte Familienrechtlerin Heiß spricht vom „Wandel der wandelbaren ehelichen Lebensverhältnisse“. Zu bedenken gilt jedoch, dass das BVerfG der Rechtsprechung zu den wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen zunächst nur insoweit eine Absage erteilt hat, als bei Zusammentreffen von Erst- und Zweitehegatte nicht die sogenannte Dreiteilungsmethode zur Berechnung des Unterhalts herangezogen werden kann. Dies betrifft letztendlich nur die Fälle des Zusammentreffens von Erstehegatte und Zweitehegatte / Unterhaltsanspruchs der Mutter eines nichtehelichen Kindes, soweit beide unterhaltsberechtigt sind. Das sind mit Sicherheit nicht die Masse der Unterhaltsfälle.

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Aus wenn das BVerfG sich grundsätzlich nur zur Verfassungswidrigkeit der wandelbaren ehelichen Lebensverhältnisse im Lichte der Dreiteilungsmethode geäußert hat, so ist die berechtigte Frage zu stellen, ob ggf. zukünftig auch die übrige Rechtsprechung zu den wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen (insbesondere bei neu hinzutretenden Kindesunterhaltsansprüchen nach einer Scheidung) „kassiert“ wird. So geht Maier (FuR 2011, S. 184) davon aus, dass die Rechtsprechung des BGH bezüglich der Eheprägung nachehelich geborener Kinder, wie sie bislang gilt, aufzugeben ist. Relativiert wird dies jedoch dadurch, dass gemäß § 1581 BGB eine Billigkeitsprüfung vorzunehmen ist, mit der Folge, dass wegen der Vorrangigkeit des minderjährigen Kindes gemäß § 1609 BGB diese dazu führt, dass sich der Erstehegatte zur Hälfte am zu zahlenden Kindesunterhalt zu beteiligen hat, was rechnerisch einem Vorwegabzug vor Berechnung des Ehegattenunterhaltsanspruchs entspricht.

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Beispiel: (nach Maier, FuR 2011, S. 184)

M hat 2000 € und schuldet einem minderjährigen Kind 200 € Unterhalt, die geschiedene Ehefrau hat Eigeneinkommen in Höhe von 1000 €.

a)    Kind wird vor der Trennung oder zwischen Trennung und Scheidung geboren:

Der Kindesunterhalt prägt die ehelichen Lebensverhältnisse und führt zu einer Absenkung des Unterhaltsbedarfs der Ehefrau von 1500 € (2000 € + 1000 € = 3000 € : 2 = 1500 €) auf 1400 € (2000 € ./. 200 € Kindesunterhalt = 1800 € + 1000 € = 2800 € : 2 = 1400 €). Der Unterhaltsanspruch der Ehefrau beträgt somit nur 1400 € ./. Eigenverdienst 1000 € = 400 € (statt ohne Kind 1500 € ./. 1000 € = 500 €).

b)    Kind wird nach Rechtskraft der Scheidung geboren:

Der Kindesunterhalt in Höhe von 200 € prägt die ehelichen Lebensverhältnisse nicht, der Bedarf der Ehefrau ist somit 1500 € (2000 € + 1000 € = 3000 € : 2 = 1500 €, der Unterhalt wäre somit rechnerisch 500 €). Da aber der Minderjährigenunterhalt vorrangig ist, erfolgt eine Korrektur gemäß § 1581 BGB bei der Leistungsfähigkeit aus Billigkeitsgründen um die Hälfte des Kindesunterhaltes, sodass auch bei nichtprägenden vorrangigen Kindesunterhaltspflichten wie in a) der zu zahlende Unterhalt an die Erstehefrau 400 € beträgt.

Eine solche Berechnung und die Kürzung des Ehegattenunterhaltes aus Billigkeitsgründen wegen des Vorrangs des Minderjährigenunterhalts führt dazu, dass man die dogmatische Frage, ob der die ehelichen Lebensverhältnisse nicht prägende Kindesunterhalt vorab bei der Bedarfsermittlung vom Einkommen des Pflichtigen abzuziehen ist (so bislang der BGH mit seiner Rechtsprechung zu den wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen) oder nicht (so wohl das BVerfG mit der klaren Entscheidung der Verfassungswidrigkeit der Rechtsprechung des BGH zu den wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen) nicht entscheidend ist, da auch dann, wenn der Kindesunterhalt nicht vorweg abgezogen wird über die Billigkeitsabwägung man zum gleichen Ergebnis gelangt im Hinblick auf die Höhe des zu zahlenden Ehegattenunterhalts.

Zum gleichen Ergebnis kommt man, wenn man den Begriff der ehelichen Lebensverhältnisse so auslegt, dass auch nach der Scheidung geborene Kinder keine erheblich vom Normalablauf abweichende Entwicklung darstellen und somit eine bedarfsprägende Wirkung vorliegt (so wohl auch Borth, FamRZ 2011, S. 447). Auf der anderen Seite hat das BVerfG in seiner Entscheidung der Rangfrage (minderjährige Kinder sind Ehegatten vorrangig) bei der Bestimmung der „ehelichen Lebensverhältnisse“ keine Bedeutung beigemessen, mit der Folge, dass auch vorrangige Unterhaltslasten minderjähriger Kinder nicht schon bei der Bedarfsermittlung für den nachehelichen Ehegattenunterhalt vorab abzuziehen sind, sondern erst bei der Frage der Leistungsfähigkeit als Verbindlichkeit des Unterhaltspflichtigen einzustellen sind. So ist jedoch nicht nur die Frage der Behandlung von Kindesunterhaltsansprüchen, die nach der Scheidung entstanden sind, unklar, sondern auch wie zukünftig bei Zusammentreffen von mehreren Ehegattenunterhaltsansprüchen diese zu berechnen sind.

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Berechnungsmöglichkeiten nach der Entscheidung des BVerfG vom 25.1.2011:

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Mann hat ein Nettoeinkommen von 2000 €, die geschiedene Ehefrau F1 erzielt 1000 €, die vom Mann getrennt lebende zweite Ehefrau F2 erzielt 600 €, beide betreuen gemeinschaftliche Kinder (Unterhaltsbeträge der Kinder bereits abgezogen, ob dies überhaupt noch so gangbar ist, ist fraglich).

Unterhalt F1:

2000 € (M) + 1000 € (F1)

= 3000 € : 2 = 1500 €

./. 1000 € (Eigenverdienst)

= 500 €

Unterhalt F2:

2000 € (M) ./. 500 € (Unterhalt F1)

= 1500 € + 600 € (F2)

= 2100 € : 2 = 1050 €

./. 600 € (Eigenverdienst)

= 450 €

Bei dieser Berechnungsmethode ist jedoch der sogenannte Halbteilungsgrundsatz nicht gewahrt, denn die Erstehefrau F1 hätte in der Summe 1500 € (1000 € Eigenverdienst und 500 € Unterhalt) uns somit mehr als der Unterhaltspflichtige (2000 € ./. 500 € F1 ./. 450 € F2 = 1050 €). Insoweit bedürfte diese Rechenmethode einer Korrektur dahingehend, dass dem Unterhaltsverpflichteten immer zumindest soviel verbleibt wie demjenigen Unterhaltsberechtigten, der zusammen mit seinem Eigeneinkommen und dem Unterhalt den größten Betrag erzielt. Es wird daher davon auszugehen sein, dass die Obergerichte eine andere Berechnungsmethode wählen, insbesondere deshalb, weil der Vorwegabzug des Unterhaltes der Erstehefrau zur Bedarfsbestimmung der Zweitehefrau nicht mit der gesetzlichen Wertung des § 1609 BGB (Gleichrang) in Einklang zu bringen ist. Demnach ergäbe sich folgende Berechnung:

Unterhalt F1:

2000 € (M) + 1000 € (F1)

= 3000 € : 2

= 1500 €

./. 1000 € (Eigenverdienst)

= 500 €

Unterhalt F2:

2000 € (M) + 600 € (F2)

= 2600 € : 2

= 1300 €

./. 600 € (Eigenverdienst)

= 700 €

Bringt man nunmehr von den 2000 € des Mannes die 500 € (F1) und die 700 € (F2) in Abzug, führt dies zur Unterschreitung des Selbstbehaltes. Es liegt ein Mangelfall vor. Vor der Rechtsprechung des BGH zu den wandelbaren Lebensverhältnissen hat der BGH einen Mangelfall nicht erst dann angenommen, wenn der Selbstbehalt (derzeit 1050 €) unterschritten wurde, sondern bereits dann, wenn bei Berücksichtigung der Unterhaltspflichten gegenüber vorrangigen oder gleichrangigen Unterhaltsberechtigten dem Unterhaltsverpflichteten weniger Geld übrig blieb, als einer der Unterhaltsberechtigten. Im Beispielsfall sind die Unterhaltsansprüche von F1 und F2 gleichrangig, sodass es der Billigkeit entspricht, beide Unterhaltsansprüche mit dem gleichen Prozentsatz zu kürzen, bis ein Ergebnis erreicht ist, bei welchem das dem Pflichtigen verbleibende Einkommen nicht unter dem Betrag liegt, welcher z. B. der geschiedenen Frau F1 bei Addition ihres Eigeneinkommens und des erhaltenen Unterhalts zur Verfügung steht. Dies ist eine äußerst komplizierte Berechnung, im Beispielsfall müssten die Unterhaltsansprüche der Berechtigten jeweils um 41 % gekürzt werden, sodass F1 295 € bekäme (statt 500 €) und F2 413 € (statt 700 €). F1 hätte dann mit ihrem Eigeneinkommen von 1000 € in der Summe 1295 €, F2 mit ihrem Eigeneinkommen von 600 € in der Summe 1013 € und dem Unterhaltspflichtigen verblieben ebenso knapp 1295 €, wie F1 (2000 € ./. 295 € F1 ./. 413 € F2 = 1292 €, prozentuale Rundungsdifferenzen mögen dann noch korrigiert werden.

Berechnungsformel für die prozentuale Kürzung:

Prozentsatz =

(Einkommen Mann (2000 €)

./. Einkommen F1 (1000 €))

: (die Hälfte von 3 x Einkommen Mann (3000 €)

./. Einkommen F1 (1000 €)

./. Hälfte Einkommen F2 (300 €))

= gerundet 0,59 bzw. 59 % von Unterhaltsbedarf F1 vor der Kürzung (500 €)

= 295 € Zahlbetrag

Neben diesen schon sehr komplizierten Berechnungsschritten kann man die Berechnung für spezielle Fallkonstellationen noch weitergehend verfeinern, so z. B. für die Fälle, in denen die Zweitehefrau nachrangig oder vorrangig, jedenfalls nicht gleichrangig mit der Erstehefrau ist. Ebenso sind dann noch spezielle Zwischenschritte bei einer Berechnung vorzunehmen, wenn z. B. die Zweitehefrau mit dem Unterhaltspflichtigen zusammenlebt und sich dadurch sogenannte Synergieeffekte ergeben, die die Rechtsprechung beim Bedarf eines jeden, der mit einem anderen zusammenlebt 10 % beträgt und in Abzug zu bringen ist. Noch komplizierter wird eine Berechnung dann, wenn zwei gleichrangige oder auch nachrangige Unterhaltsansprüche einer Erstehefrau mit Unterhaltsansprüchen der Mutter nichtehelicher Kinder (§ 1615 l BGB) zu bedienen sind.

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Es wird auch die Auffassung vertreten, dass grundsätzlich die Dreiteilungsmethode weiterhin angewendet werden kann, insbesondere bei Gleichrang der unterhaltsberechtigten Ehegatten, da man faktisch über eine Billigkeitskorrektur gemäß § 1581 BGB auch unter Berücksichtigung der Vorgaben des BVerfG faktisch zu einer Dreiteilung gelangt (Gutdeutsch, FamRZ 2011, S. 523 ff.~ Gerhardt, FamRZ 2011, S. 537 ff.). Gerhardt weist darauf hin, dass das BVerfG zur Korrekturberechnung und Billigkeitsabwägung gemäß § 1581 BGB nichts ausgeführt hat. Es darf keine Bevorzugung eines bedürftigen Ehegatten geben, auch nicht des geschiedenen Ehegatten. Nachdem der Grundsatz der Halbteilung auch für den Unterhaltspflichtigen gilt, führt dies nach Gerhardt rechnerisch und faktisch auch zukünftig zur Dreiteilung. Wörtlich: „Auch das BVerfG kann mathematische Grundregeln nicht beseitigen. Damit ändert sich am bisherigen Ergebnis nichts, der Rechenweg wird nur länger.“ (Gerhardt, FamRZ 2011, S. 539). Die hier zitierten Fachleute sind nicht die einzigen, die letztendlich eine Kritik an der Entscheidung des BVerfG üben. So führt Reinecke wie folgt aus: „Es fragt sich, ob sich das BVerfG im Rahmen der ihm von der Verfassung übertragenen Rolle bewegt oder ob es sich unzulässigerweise als Superrevisionsinstanz eingesetzt hat.“ (Reinecke, FamFR 2011, S. 97, 99).

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Unabhängig von all diesen Literaturmeinungen und Kritikpunkten wird es Aufgabe der Praxis sein und insbesondere schlussendlich des BGH, eine für alle Beteiligten verständliche Berechnung des Unterhalts bei mehreren unterhaltsberechtigten Ehegatten „vorzulegen“. Bis dahin werden insbesondere die Betroffenen Schwierigkeiten haben, vorauszusehen „wohin die Reise geht“. Mit der Unterhaltsrechtsreform ist das Unterhaltsrecht immer mehr zur Einzelfallrechtsprechung geworden, gesicherte Voraussagen waren und sind schwerlich möglich. Die Entscheidung des BVerfG führt dazu, dass eine zwischenzeitlich gefestigte Rechtsprechung des BGH gekippt wurde und somit weitere Rechtsunsicherheit entstanden ist.

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Nachdem nach einer Scheidung entstandene Unterhaltsverpflichtungen im Rahmen der Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen sind, wird es nach diesseitiger Einschätzung auch nicht so viele Fälle geben, die zu einer Änderung bisheriger Entscheidungen führt, dies gilt umso mehr, als über § 1581 BGB Billigkeitskorrekturen vorzunehmen sind. Mag sich möglicherweise für den Erstehegatten durch die Entscheidung des BVerfG wieder ein erhöhter Bedarf errechnen, so läuft wegen der Berücksichtigung der anderen Unterhaltspflichten im Rahmen der Leistungsfähigkeit wegen des Gleichrangs/Vorrangs diese Bedarfserhöhung „ins Leere“.

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Das Unterhaltsrecht ist und bleibt im Wandel, gesicherte Voraussagen in der Beratungspraxis sind kaum mehr möglich, und Entscheidungen wie die des BVerfG tragen mit Sicherheit nicht zur Rechtsklarheit bei. Die Merkblätter des Verbandes ISUV/VDU in denen es um die „ehelichen Lebensverhältnisse“ geht, sind im Hinblick auf die Entscheidung des BVerfG entsprechend aktualisiert worden (Merkblatt Nr. 16/18/24/31).