BVerfG, Beschluss vom 30.06.2009 – Gemeinsame Sorge und Wechselmodell

  1. Die gemeinsame Ausübung der Elternverantwortung setzt eine tragfähige soziale Beziehung zwischen den Eltern voraus, erfordert ein Mindestmaß an Übereinstimmung zwischen ihnen und hat sich am Kindeswohl auszurichten. Bei der Entscheidung über die Aufhebung der gemeinsamen Sorge ist zu berücksichtigen, dass die Eltern das Wechselmodell zu ihrer Zufriedenheit praktizieren und auch die Kinder dieses aufrechterhalten möchten.
  1. Ziel der Auflösung der gemeinsamen elterlichen Sorge ist nicht der Ausgleich persönlicher Defizite zwischen den Eltern durch Übertragung der Alleinsorge auf einen Elternteil, sondern allein das Kindeswohl.

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Urteil

Gericht         : BVerfG
Datum           : 30.0.2009
Aktenzeichen    : 1 BvR 1868/08
Leitparagraph   : BGB §1671 , GG Art. 6 II 
Quelle          : -
Kommentiert von : RA Georg Rixe

Inhalt:

Folgender Sachverhalt lag zu Grunde

 

Die betroffenen Eltern sind gemeinsam sorgeberechtigt für ihre 2000 und 2002 außerehelich geborenen Söhne. Sie betreuen die Kinder seit 1 ½ Jahren im wöchentlichen Wechsel zu ihrer Zufriedenheit. Auch die Kinder möchten die Aufteilung der Lebensmittelpunkte wie bisher beibehalten. Das Familiengericht hat nach Einholung eines Sachverständigengutachtens den Antrag der Mutter auf Aufhebung der gemeinsamen Sorge, hilfsweise des Aufenthaltsbestimmungsrechts, zurückgewiesen, weil die Eltern trotz Abstimmungsschwierigkeiten und Konflikten dennoch im Ergebnis zu tragfähigen Absprachen über die Belange der Kinder gelangt seien. Demgegenüber hat das OLG der Kindesmutter die elterliche Sorge allein übertragen, weil es angesichts des erheblichen Konfliktpotentials zwischen den Eltern nicht bei einer gemeinsamen Sorge verbleiben könne. Es bestehe keine Fähigkeit und Bereitschaft der Eltern zur Kooperation in den die Kinder betreffenden Belangen. Der Dominanz des Bf. in der Elternbeziehung müsse ein rechtliches Gegengewicht gegenüber gestellt werden, indem die Rechtsposition der Mutter im Elternkonflikt gestärkt werde. Das BVerfG gab der Verfassungsbeschwerde des beschwerdeführenden Vaters wegen Verletzung seines Elternrechts gem. Art. 6 II GG statt.

 

Das BVerfG begründete seine Entscheidung wie folgt

Das den Eltern gem. Art. 6 II GG verfassungsrechtlich gegenüber dem Staat gewährleistete Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder dient in erster Linie dem Kindeswohl, das zugleich oberste Richtschnur für die Ausübung der Elternverantwortung ist. Der Schutz des Elternrechts, das dem Vater und der Mutter gleichermaßen zukommt, erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts. Zwar setzt eine gemeinsame Ausübung der Elternverantwortung eine tragfähige soziale Beziehung zwischen den Eltern voraus, erfordert ein Mindestmaß an Übereinstimmung zwischen ihnen und hat sich am Kindeswohl auszurichten, jedoch hat das OLG nicht nachvollziehbar begründet, weshalb die Auflösung der elterlichen Sorge zum Wohl der Kinder erforderlich ist. Es hat insbesondere nicht berücksichtigt, dass die gerichtlich festgelegte bzw. bestätigte Umgangsregelung mit den Kindern und deren Betreuung im Sinne eines Wechselmodells offenbar zur Zufriedenheit der Beteiligten praktiziert wird und auch den Wünschen der Kinder entspricht.

 

Soweit das OLG das gemeinsame Sorgerecht aufgehoben hat, um das Konfliktpotential aus der Elternbeziehung zu nehmen, indem es der Dominanz des Bf. in der Elternbeziehung ein rechtliches Gegengewicht gegenüber stellte, wird damit ebenfalls Bedeutung und Tragweite des Art. 6 II GG verkannt, weil Ziel einer Auflösung der gemeinsamen Sorge nicht der Ausgleich persönlicher Defizite zwischen den Eltern mittels Übertragung der Alleinsorge auf einen Elternteil ist, sondern allein das Kindeswohl. Das OLG hat sich auch nicht hinreichend mit der Frage auseinandergesetzt, ob es dem Kindeswohl abträglich ist, die gemeinsame Sorge aufzuheben, obwohl das Sachverständigengutachten gerade auf die negativen Folgen einer Übertragung der Alleinsorge auf die Kindesmutter hingewiesen und im Interesse der Kinder empfohlen hat, der Mutter nicht das Instrument der Alleinsorge zur Lösung ihrer persönlichen Probleme in der Beziehung zum ehemaligen Partner und zur Befriedigung ihres Bedürfnisses nach Abgrenzung in die Hand zu geben, zumal es dann für sie keinen Anlass mehr für Elterngespräche gebe. Wenn sie sich dem Kindesvater vollständig entziehe, sei dies nicht im Interesse der Kinder.

Fazit

Der vorstehende Beschluss stärkt die Ausübung der gemeinsamen Verantwortung der Eltern und das verfassungsrechtlich geschützte Recht des Kindes auf eine Betreuung und Versorgung durch beide Elternteile (vgl. auch Urteil des BVerfG vom 01.04.2008 – 1 BvR 1620/04, ISUV-Report Juni 2008 Nr. 116, S. 16). Er tritt der Sache nach einer verbreiteten restriktiven Rechtsprechung entgegen, wonach die Fortsetzung eines praktizierten Wechselmodells gerichtlicherseits nicht erzwungen werden kann (vgl. nur: OLG Stuttgart, FamRZ 2007, 1266~ OLG Hamm, Beschluss vom 15.05.2009 – II-5 UF 181/08). Das BVerfG betont vielmehr zu Recht, dass nicht allein der Wille eines Elternteils bei Entscheidungen über die Pflege und Erziehung von Kindern maßgeblich ist, sondern eine umfassende Kindeswohlbeurteilung. Das OLG hatte im vorliegenden Fall nicht berücksichtigt, dass schon die Durchführung des Wechselmodells ungeachtet von sonstigen Konflikten unter den Eltern zur Zufriedenheit aller durchgeführt worden war und auch der Sachverständige eine Beibehaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge vorgeschlagen hatte. Schließlich betont das BVerfG zu Recht, dass die Gerichte im Falle eines Elternstreits nicht mit Hilfe der Sorgerechtsentscheidung einen Ausgleich persönlicher Defizite zwischen den Eltern vornehmen dürfen, sondern diese allein durch Kindeswohlgesichtspunkte legitimiert werden kann.