EGMR, Urteil vom 15. 9. 2011 - Umgangsrecht

  1. Einem leiblichen Vater, dessen Kind einen anderen rechtlichen Vater hat, steht ein Umgangs- und Auskunftsrecht zu, wenn dies dem Kindeswohl entspricht, selbst wenn er bisher noch keine Beziehung zu ihm aufbauen konnte.
  2. Der mutmaßliche leibliche Vater kann zur Klärung der Abstammung des Kindes nicht auf die Durchführung eines Vaterschaftsanfechtungsverfahrens verwiesen werden.

Urteil

Gericht         : EGMR 
Datum           : 15.09.2011 
Aktenzeichen    : 17080/07 
Leitparagraph   : BGB §1685 
Quelle          : FamRZ 2011, 1715 
Kommentiert von : RA Georg Rixe

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Inhalt:

Der 1958 geborene Beschwerdeführer (Bf.) unterhielt von Mai 2002 bis September 2003 eine Beziehung zu einer verheiraten Frau. Er geht davon aus, leiblicher Vater des 2004 geborenen Kindes zu sein, dessen rechtlicher Vater der Ehemann der Mutter ist. Das Ehepaar räumt ein, dass sowohl der Bf. als auch der Ehemann der Vater sein kann, lehnt aber im Interesse des familiären Zusammenlebens eine Vaterschaftsklärung ab.

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Während der Schwangerschaft begleitete der Bf. seine Lebensgefährtin zu mindestens zwei ärztlichen Untersuchungen und erkannte beim Jugendamt die Vaterschaft des ungeborenen Kindes an. Nach der Geburt des Kindes im August 2004 beantragte der Bf. die Regelung des Umgangs und die regelmäßige Auskunft über die persönlichen Verhältnisse des Kindes. Das Familiengericht wies seinen Antrag ab, weil er selbst bei unterstellter leiblicher Vaterschaft keine nach dem BGB umgangsberechtige Person sei: Seine Vaterschaftsanerkennung sei nicht wirksam, weil dem die Vaterschaft des Ehemannes entgegenstehe~ er habe kein Vaterschaftsanfechtungsrecht, da zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind eine sozial-familiäre Beziehung bestehe~ schließlich sei der Bf. keine Bezugsperson des Kindes, da er nie mit ihm zusammengelebt habe.

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Das OLG bestätigte die Entscheidung des Familiengerichts. Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Es befand insbesondere, dass Art. 6 I GG die Beziehung des leiblichen Vaters zu seinem Kind nur schütze, wenn zwischen ihnen eine tatsächliche sozial-familiäre Beziehung bestehe. Auf die vom Verfasser für den Bf. erhobene Menschenrechtsbeschwerde entschied der EGMR einstimmig, dass eine Verletzung von Art. 8 EMRK durch die gerichtliche Verweigerung des Umgangs und der Auskunft vorlag und sprach ihm 5.000,- € als immaterielle Entschädigung sowie geltend gemachte Kosten und Auslagen zu. Das Urteil ist rechtskräftig.

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1. Die Entscheidung des EGMR

Der Gerichtshof befand, dass zwischen dem Bf. und dem Kind kein bestehendes Familienleben vorlag, weil die leibliche Abstammung von den Gerichten nicht geklärt war und nie eine enge Beziehung zwischen ihnen bestand. Das war dem Bf. aber nicht anzulasten. Er hatte weder ein Umgangsrecht gemäß § 1685 II BGB, noch konnte er die Vaterschaft erfolgreich anfechten, da dies wegen der sozial-familiären Beziehung des rechtlichen Vaters und des Kindes gemäß § 1600 II BGB ausgeschlossen war. Andererseits hat der Bf. sein Interesse an dem Kind hinlänglich deutlich gemacht, indem er es mit der Mutter gemeinsam plante, sie zu ärztlichen Untersuchungen begleitete und die Vaterschaft noch vor der Geburt anerkannte. Es lag deshalb in jedem Fall ein Eingriff in sein Privatleben gemäß Art. 8 EMRK vor, da sein Begehren einen wichtigen Teil seiner Identität betraf.

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Der Gerichtshof sah die Verweigerung von Umgangs- und Auskunftsansprüchen des Bf. - dessen Vaterschaft die Gerichte unterstellten - als konventionswidrig an, weil sie nicht geprüft haben, ob diese unter den besonderen Umständen des Falles dem Wohl des Kindes entsprachen oder ob die Interessen des Bf. die der rechtlichen Eltern überwiegen. Dass der Bf. Aufgrund der Gesetzeslage keine Beziehung zu dem Kind aufbauen und die Vaterschaft nicht erfolgreich anfechten konnte, so dass er auf diesem Weg nicht die Abstammung klären konnte, haben die Entscheidungen unter Verstoß gegen die EMRK als unerheblich angesehen.

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Der Gerichtshof war angesichts der Realitäten des Familienlebens im 21. Jahrhundert jedoch nicht davon überzeugt, dass das Wohl von Kindern, die bei ihrem rechtlichen Vater leben, aber einen anderen leiblichen Vater haben, sachgerecht mit Hilfe einer allgemeinen gesetzlichen Vermutung zu dessen Lasten ermittelt werden kann. Wegen der großen Vielfalt möglicherweise betroffener Familienkonstellationen erfordert eine angemessene Abwägung der Rechte aller Beteiligten eine Prüfung der besonderen Umstände des Falles.

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2. Fazit

Mit der vorliegenden Entscheidung entwickelt der EGMR seine Rechtsprechung im Fall Anayo/Deutschland (ISUV - Report Nr. 127, März 2011/1 S. 17) fort. Er vertritt zutreffend die Auffassung, dass Umgangs und Auskunftsrechte des leiblichen Vaters angesichts der familiären Lebensverhältnisse

im 21. Jahrhundert durch den Gesetzgeber nicht pauschal zugunsten der sozialen Familie des Kindes ausgeschlossen werden dürfen, wenn der leibliche Vater gegen den Willen der Eltern noch keine Beziehung zum Kind aufbauen konnte. Vielmehr bedarf es der Würdigung der Umstände des Einzelfalls unter Beachtung des Kindeswohls.

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Diese allgemein gehaltenen Ausführungen gelten ersichtlich nicht nur für Umgangs- und Auskunftsansprüche, sondern insgesamt für die Rechtsstellung des leiblichen Vaters. Vor diesem Hintergrund ist der Gesetzgeber verpflichtet, die Rechte von leiblichen Eltern generell zu stärken. Leitendes Prinzip ist dabei der Schutz der Identitätsfindung des leiblichen Elternteils und des Kindes unter Beachtung des Kindeswohls. Das gilt nicht nur für Umgangs- und Auskunftsansprüche, sondern auch für das bisher unverhältnismäßig eingeschränkte Anfechtungsrecht des leiblichen Vaters gemäß § 1600 II BGB. Dieses ist bereits dann ausgeschlossen, wenn zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind eine sozial-familiäre Beziehung besteht. Diese Regelung setzt den leiblichen Vater demnach ebenso pauschal zurück wie beim Umgangsrecht. In einer Vielzahl von Rechtsordnungen in Europa ist sein Anfechtungsrecht bereits dem von rechtlichen Vätern und Müttern angeglichen. Auch muss dem leiblichen Vater ein gesetzliches Recht auf isolierte Klärung der Abstammung in Erweiterung vom § 1598 a BGB zugestanden werden. Diese Problemstellungen sind Gegenstand von Beschwerdeverfahren des Verfassers vor dem EGMR, die in absehbarer Zeit entschieden werden.

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Der Verfasser hat in seinem Beitrag in FamRZ 2011, 1363-1367 diese Fragen näher erörtert und insbesondere auch die Auffassung vertreten, dass die Rechte des leiblichen Vaters nach der Rechtsprechung des EGMR bereits vor einer gesetzlichen Neuregelung durch eine menschenrechtskonforme Auslegung des geltenden Rechts umgesetzt werden können. Das gilt nicht nur für Umgangs- und Auskunftsansprüche, sondern auch für eine entsprechende Auslegung des Vaterschaftsanfechtungsrechts.