EGMR, Urteil vom 21.04.2011 - Verfahrensdauer Untätigkeitsbeschwerde

  1. Gerichtliche Verfahren wegen der Einschränkung oder Verweigerung von Umgang sind besonders beschleunigt durchzuführen, da immer die Gefahr besteht, dass die Verfahrensdauer zu einer endgültigen Entscheidung der Sache führt.
  2. In Deutschland fehlt weiterhin ein effektiver Rechtsbehelf gegen eine überlange Verfahrensdauer.

 

Urteil

Gericht         : EGMR 
Datum           : 24.04.2011 
Aktenzeichen    : 41599/09 
Leitparagraph   : FamFG §155 
Quelle          : - 
Kommentiert von : RA Georg Rixe 

Inhalt:

Folgender Sachverhalt lag zugrunde:

Der Beschwerdeführer (Bf.) stellte beim Familiengericht Frankfurt am Main/Höchst am 19.5.2005 einen Antrag auf Regelung des Umgangs mit seinem am 21.12.2003 geborenen Kind, da die Mutter bereits kurz nach der Geburt des Kindes jeglichen Umgangskontakt ablehnte.

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Im ersten Anhörungstermin am 1.12.2005 einigten sich die Eltern auf einen begleiteten Umgang. Bis Mai 2006 versuchte das Jugendamt vergeblich, eine Einigung der Eltern im Hinblick auf eine entsprechende Institution zu vermitteln. Aufgrund einstweiliger Anordnung des Familiengerichts vom 6.6.2006 fanden zwischen Juli und Oktober 2006 fünf begleitete Umgangskontakte statt. Daraufhin empfahlen sowohl das Jugendamt als auch die Beratungsstelle als nächsten Schritt einen unbegleiteten Umgang. Nach Anhörung am 12.12.2006 beauftragte das Familiengericht am 8.2.2007 eine Gutachterin mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens binnen drei Monaten. Nach erneuter Anhörung der Beteiligten am 16.5.2007 fanden aufgrund einer weiteren einstweiligen Anordnung vom 22.5.2007 sechs begleitete Umgangskontakte statt.

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In der darauffolgenden Anhörung vom 22.11.2007 empfahl die Sachverständige begleitete Umgangskontakte. Am 20.12.2007 bestellte das Familiengericht demgegenüber eine Verfahrenspflegerin und setzte ihr eine Frist zur Stellungnahme von zwei Monaten.

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Im Mai 2008 einigten sich die Eltern auf Gespräche in einer Beratungseinrichtung mit anschließenden begleiteten Umgangskontakten. Als die Beratungsstelle am 11.2.2009 einen ersten Kontakt zwischen Bf. und Kind empfahl, lehnte die Mutter eine weitere Kooperation ab. Nachdem die Verfahrenspflegerin am 26.2.2009 ihren Bericht vorgelegt hatte, terminierte das Familiengericht auf den 3.9.2009. Dieser und folgende Termine wurden auf Antrag von Beteiligten verlegt, sodass erst am 2.11.2009 die abschließende Anhörung der Eltern erfolgte.

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Das OLG Frankfurt, FamRZ 2010, 487 f. stellte auf die Untätigkeitsbeschwerde des Bf. hinsichtlich der mehrfachen Terminsverlegung fest, dass sich dadurch faktisch eine Verzögerung des Verfahrens ergeben habe, die in ihrer Wirkung einer Rechtsverweigerung gleichkomme.

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Mit Beschluss vom 21.12.2009 schloss das Familiengericht den Umgang ""für ein weiteres Jahr"" mit der Begründung aus, dass das Kind, das den Vater zweieinhalb Jahre nicht gesehen habe, durch das Verfahren belastet sei und ihm Zeit gegeben werden müsse, sich auf den Schuleintritt vorzubereiten.

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Auf Antrag des Bf. ergänzte das Familiengericht am 22.3.2010 seinen Beschluss im Hinblick auf die unterlassene Entscheidung über den Auskunftsanspruch. Auf die Beschwerde des Bf. regelte das OLG Frankfurt am Main durch einstweilige Anordnung vom 12.5.2010 sechs begleitete Umgangskontakte und ordnete durch Hauptsachebeschluss vom 1.9.2010 einen regelmäßigen Umgang an, für das erste halbe Jahr unter Begleitung durch einen Umgangspfleger/Übergabepfleger.

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Der vom Verfasser vor dem EGMR vertretene Bf. legte während des Verfahrens vor dem Familiengericht Menschenrechtsbeschwerde ein. Der Gerichtshof verurteilte die BRD wegen überlanger Dauer des Verfahrens vor dem Familiengericht gemäß Art. 6 I EMRK sowie wegen Fehlens eines effektiven Rechtsbehelfs bei überlanger Verfahrensdauer gem. Art. 13 EMRK und verpflichtete Deutschland zur Schmerzensgeldzahlung in Höhe von 5.200,00,- € und zur Kostenerstattung.

Der EGMR begründete seine Entscheidung wie folgt:

 

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  1. Nach Art. 6 EMRK ist die Angemessenheit der Verfahrensdauer im Lichte der Umstände des Einzelfalls sowie unter Berücksichtigung folgender Kriterien zu bewerten: Komplexität des Falls, Verhalten des Bf. und der zuständigen Gericht sowie die Bedeutung des Verfahrens für den Bf. Das Verfahren vor dem Familiengericht dauerte vier Jahre und zehn Monate. Der EGMR beanstandete vor allem, dass das Verfahren nicht mit der gebotenen größtmöglichen Beschleunigung durchgeführt wurde, obwohl die Gefahr bestand, dass die Verfahrensdauer angesichts der fortschreitenden Entfremdung des Kindes, das bei Verfahrensbeginn 1 ½ Jahre alt war, zu einer endgültigen Entscheidung allein aufgrund des Zeitablaufs führt. Der Gerichtshof rügte weiter, dass das Familiengericht versäumt hatte, alle Möglichkeiten der Beschleunigung des Verfahrens auszuschöpfen, nachdem deutlich geworden war, dass sich die Eltern nicht einigen konnten. Schließlich beanstandete der Gerichtshof, dass die Verfahrenspflegerin vom Familiengericht offensichtlich zu spät bestellt worden ist, nämlich erst nach mehr als 2 ½ Jahren seit Verfahrensbeginn, sodass sich daraus zusätzliche Verzögerungen ergaben.
  2. Des Weiteren verurteilte der Gerichtshof die BRD zum wiederholten Mal wegen Fehlens eines effektiven Rechtsbehelfs gegen überlange Gerichtsverfahren.

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Fazit

Der vom Gerichtshof entschiedene Fall ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die Gerichte Kindschaftssachen nicht mit der erforderlichen Zügigkeit bearbeiten, um Entfremdungen und eine Präjudizierung des Verfahrens durch bloßen Zeitablauf zu verhindern. Auch die Neuregelung des § 155 FamFG, die eine Beschleunigung von Kindschaftssachen sowie eine Anhörung innerhalb eines Monats und nur in Ausnahmefällen Terminsverlegungen vorsieht, wird in der Praxis häufiger nicht hinreichend beachtet.

Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 17.11.2010 (BT-Drs. 17/3802) sieht zur Umsetzung der Rechtsprechung des EGMR einen neuartigen Entschädigungsanspruch bei überlanger Dauer von Gerichtsverfahren vor. Gleichzeitig soll die bisher vor allem in der Zivilgerichtsbarkeit anerkannte Untätigkeitsbeschwerde grundsätzlich abgeschafft werden. Der Verband (vgl. ISUV-Report Nr. 126, S. 7) und der Verfasser (FamRZ 2010, 1965 - 1970) haben das Fehlen einer Beschleunigungsbeschwerde für anhängige Gerichtsverfahren als verfassungswidrig gerügt und den Gesetzgeber zur Abänderung des Entwurfes aufgerufen.

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Insoweit hat der betroffene Bürger ein durch die Verfassung abgesichertes vorrangiges Interesse daran, auf den beschleunigten Abschluss eines Verfahrens wirksam Einfluss zu nehmen, anstatt ohnmächtig zuzusehen, wie das Verfahren immer länger dauert und – gerade auch in Kindschaftssachen – endgültige Fakten schafft. Das zeigt beispielhaft auch der vom EGMR entschiedene Fall Afflerbach/ Deutschland (lSUVReport Nr. 125, S. 17). Eine – zudem bescheidene – Entschädigung am Schluss eines überlangen Verfahrens kann deshalb ersichtlich keine ausreichende Wiedergutmachung darstellen.