EGMR, Urteil vom 24.06.2010 - Verfahrensdauer Untätigkeitsbeschwerde
- Gerichtliche Verfahren wegen der Einschränkung oder Verweigerung von Umgang sind besonders beschleunigt durchzuführen, da immer die Gefahr besteht, dass die Verfahrensdauer zu einer endgültigen Entscheidung der Sache führt.
- In Deutschland fehlt weiterhin ein effektiver Rechtsbehelf gegen eine überlange Verfahrensdauer.
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Urteil
Gericht : BGH Datum : 24.06.2010 Aktenzeichen : 39444/08 Leitparagraph : EMRK Art. 6~ EMRK Art. 13~ BGB §1684~ FamFG §155 Quelle : www.bundesgerichtshof.de Kommentiert von : RA Georg Rixe
Inhalt:
Folgender Sachverhalt lag zugrunde:
Der Beschwerdeführer (Bf.) lebte mit der Mutter und dem 1997 geborenen Kind von April 1997 bis Juni 1998 zusammen. Die alleinsorgeberechtigte Mutter zog daraufhin mit dem Kind aus und verweigerte dem Vater seit November 1999 den Umgang wegen angeblichem sexuellen Missbrauchs des Kindes. Das vom Bf. im Januar 2000 angerufene Familiengericht beauftragte einen Sachverständigen, der den Vorwurf nicht bestätigte und einen regelmäßigen Umgang empfahl. Das Familiengericht ordnete daraufhin im Februar 2001 einen betreuten Umgang an. Auf die Beschwerde der Kindesmutter schloss das sachverständig beratene OLG den Umgang durch Entscheidung von Januar 2004 für vier Jahre aus. Es war zwar nicht von den Anschuldigungen der Mutter überzeugt, sah aber eine Kindeswohlgefährdung in den nachteiligen Auswirkungen der tiefen Zerstrittenheit der Eltern auf das Kind, wenn der Umgang gegen den Willen der Mutter durchgesetzt werden müsste. Auf die vom Beschwerdeführer eingelegte Verfassungsbeschwerde hob das BVerfG den Umgangsausschluss durch Beschluss von Juni 2004 wegen Verletzung des Elternrechts des Vaters auf.
Nach Zurückverweisung verhinderte die Mutter über lange Zeit die Begutachtung der Tochter und zog mehrfach um. Erst Mitte Dezember 2008 wurde das Gutachten abschließend erstellt. Das OLG schloss daraufhin den Umgang des Bf. mit seinem mittlerweile zwölf Jahre alten, infolge der Verfahrensdauer tiefgreifend entfremdeten Kind aus, weil dieses den Umgang ablehnte und gegen seinen Willen ohne Verletzung seines Persönlichkeitsrechts kein Umgang mehr angeordnet werden könne. Der vom Verfasser vertretene Bf. Legte während des Verfahrens vor dem OLG Menschenrechtsbeschwerde ein. Der Gerichtshof verurteilte die BRD wegen überlanger Dauer des Verfahrens vor dem OLG gem. Art. 6 I EMRK und wegen Fehlens eines effektiven Rechtsbehelfs bei überlanger Verfahrensdauer gem. Art. 13 EMRK.
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Der EGMR begründete seine Entscheidung wie folgt
- Nach Art. 6 EMRK ist die Angemessenheit der Verfahrensdauer im Lichte der Umstände des Einzelfalls sowie unter Berücksichtigung folgender Kriterien zu bewerten: Komplexität des Falls, Verhalten des Bf. Und der zuständigen Gericht sowie die Bedeutung des Verfahrens für den Bf ..Der Gerichtshof rügte, dass das OLG das Verfahren angesichts des Obstruktionsverhaltens der Mutter nicht mit größtmöglicher Beschleunigung betrieben hat, obwohl die Gefahr bestand, dass das Verfahren faktisch allein durch Zeitablauf entschieden wurde. Er beanstandete vor allem, dass es mehr als fünf Jahre gedauert hat, bis die Begutachtung des Kindes abgeschlossen war und das Gericht insoweit keine rechtzeitigen und wirksamen Maßnahmen zur Durchführung der Begutachtung beschlossen hatte.
- lm Einklang mit seiner bisherigen Rechtsprechung stellte der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 13 EMRK fest, weil ein wirksamer Rechtsbehelf zur Beschleunigung des Gerichtsverfahrens fehlte.
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Fazit
Der vorliegende Fall zeigt die Bedeutung der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer in Kindschaftssachen, da die lange Entfremdung des Kindes infolge der unverhältnismäßigen Verzögerungen zu einem endgültigen Ausschluss des Umgangs führte. Dem Bf. stand allerdings kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung, um dem entgegenzutreten.
Zur Umsetzung der Grundsatzentscheidung des EGMR vom 8.6.2006 - Sümeli/Deutschland - (ISUV-Report Nr. 114, S. 16 f.) hat das Bundesjustizministerium im April 2010 den Referentenentwurf eines ,,Gesetzes
über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahrens und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren"" veröffentlicht, der dem Betroffenen einen Entschädigungsanspruch bei überlanger Verfahrensdauer gewährt, wenn er zuvor eine sog. ,,Verzögerungsrüge"" erhoben hat. Der Referentenentwurf sieht aber keinen Rechtsbehelf vor, um verzögerte oder überlange Verfahren zu beschleunigen. Insoweit ist der Entwurf nicht nur rechtspolitisch verfehlt, sondern auch verfassungswidrig, weil Betroffene in erster Linie einen Anspruch auf Sicherstellung einer angemessenen Verfahrensdauer haben und erst in zweiter Linie einen Anspruch auf Entschädigung bei einer überlangen Verfahrensdauer. Der Entwurf setzt sich auch ohne hinreichende Begründung über die Empfehlung des EGMR im Verfahren Sürmeli hinweg, wonach die Wahl eines Beschleunigungsrechtsbehelfs für anhängige Verfahren die beste Lösung sei, weil sie bei der eigentlichen Ursache des Problems der Verfahrensdauer ansetzt und dem Rechtsschutzsuchenden im Vergleich zu einer Entschädigungslösung den effektiveren Schutz zur Verfügung stellt. Auch die Sachverständigen des Expertensymposiums im BMJ vom 8.10.2007 zu Handlungsoptionen für einen Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer haben sich überwiegend (einschließlich des Verfassers) für einen präventiven Rechtsbehelf bei laufenden Verfahren und eine Entschädigung bei Überlänge ausgesprochen.
Der vom Gerichtshof entschiedene Fall zeigt überdeutlich, dass allein der vom BMJ vorgeschlagene Entschädigungsanspruch bei überlanger Verfahrensdauer vor allem wegen der irreversiblen Folgen in Kindschaftssachen ersichtlich keine ausreichende Wiedergutmachung darstellen kann.
Die Bundesregierung ist deshalb aufgerufen, ihr beabsichtigtes Gesetzesvorhaben um eine Untätigkeitsbeschwerde entsprechend dem Referentenentwurf 2005 zu ergänzen. Eine diesbezügliche Stellungnahme hat der Verband im Rahmen der Anhörung abgegeben.