Kindesunterhalt - OLG - 15.09.2022
Ein Anspruch auf fortgesetzten Ausbildungsunterhalt besteht in der Konstellation „Lehre – Abitur – Studium“ dem Grunde nach nicht nur, wenn bei Aufnahme der praktischen Erstausbildung der Weiterbildungswunsch schon offenbar war, sondern auch dann, wenn sich im Zuge dieser Erstausbildung herausstellt, dass zunächst eine Fehleinschätzung der Begabungen des Kindes vorlag, nämlich infolge einer „Nachreifung“ des Kindes das Anstreben des Abiturs mit nachfolgendem Studium sich nunmehr durchaus als angemessene Ausbildung darstellt.
Beschluss:
Gericht: OLG Koblenz
Datum: 15.09.2022
Aktenzeichen: Az. 7 UF 363/22
Leitparagraph: §§ 1601, 1610 BGB
Quelle: FamRZ 2024, Seite 42
Kommentierung:
Der 2002 geborene volljährige Sohn besuchte nach der Grundschule zunächst die Orientierungsstufe der Realschule, musste dann jedoch aufgrund unzureichender Leistungen in den Hauptschulzweig wechseln. Dort erreichte er durch das „freiwillige 10. Schuljahr“ den Sekundarabschluss I und begann zunächst eine Lehr zum Industriekaufmann, die er im Juni 2021 abschloss. Bereits zuvor war in ihm der Wunsch gereift, sich zum Berufsschullehrer fortzubilden, weshalb er sich Anfang 2021 auf einem beruflichen Gymnasium bewarb, das er seit Sommer 2012 mit dem Ziel des Abiturs und einem daran anschließenden Studium der Wirtschaftspädagogik besucht.
Der Vater vertritt die Auffassung, dass es sich hierbei um ein von ihm nicht zu finanzierende Zweitausbildung handelt.
Nach der Rechtsprechung besteht in der Konstellation „Lehre – Abitur – Studium“ nur ausnahmsweise ein Unterhaltsanspruch (BGH, FamRZ 2006, Seite 1100; OLG Celle, NJW 2013, Seite 2688; BGH FamRZ 2017, Seite 799 und 1132). Grundsätzlich ist eine Ausbildung in diesen Fällen nur dann als einheitlich anzusehen, wenn schon bei Beginn der praktischen Ausbildung (Lehre) erkennbar eine Weiterbildung einschließlich des späteren Studiums angestrebt wurde, denn Eltern müssen nach einem Realschulabschluss grundsätzlich nicht damit rechnen, dass sie nicht nur eine praktische Ausbildung, sondern auch noch ein Studium finanzieren müssen.
Das OLG Koblenz macht mit seiner Entscheidung das Tor für einen Unterhaltsanspruch auch für diese Konstellationen weit auf, indem es eine Nachreifung als Grund dafür heranzieht, Unterhalt zuzusprechen. Von Fehleinschätzungen bei den Begabungen wird jedes Kind in Zukunft sprechen und sich darauf stützen. Es bleibt natürlich abzuwarten, ob diese Rechtsprechung auch anderenorts angewandt wird. Das OLG Koblenz weist aber auch darauf hin, dass dies natürlich auch eine Altersfrage ist, hier war das Kind bei Aufnahme der Lehre 16 Jahre alt, das Gericht konstatiert eine durchaus alterstypische Schulmüdigkeit, die durch Nachreifung „abgelegt“ wurde. Frühestens mit der Volljährigkeit bzw. der Vollendung des 21. Lebensjahres ist eine Persönlichkeitsentwicklung abgeschlossen, sodass vor dem Erreichen des 21. Lebensjahres sich das Kind auf diese „Nachreifung“ berufen konnte. Im Umkehrschluss heißt das, dass wenn die Entscheidung, wieder zur Schule zu gehen (nach Realschulabschluss und Lehre), erst nach dem 21. Lebensjahr erfolgt, wird wohl ein Unterhaltsanspruch nicht mehr entstehen.
Im vorliegenden Fall hatte das Kind auch noch bei einem Elternteil gelebt, war somit noch nicht „selbständig“, zudem ist zu bedenken, dass bei dem Kind die Entscheidung wieder zur Schule gehen zu wollen im Alter von 19 erfolgte, einem Alter, in dem andere erst ihr Abitur machen.
Ein enger zeitlicher und sachlicher Zusammenhang mit der Erstausbildung lag nach Einschätzung des Gerichtes vor.
Neben der hier genannten Fallkonstellation gibt es häufig die Fälle „Abitur – Lehre – Studium“. Hier ist es – ebenso wie im hiesigen Fall – notwendig, dass immer ein enger zeitlicher und sachlicher Zusammenhang besteht. Lehre und späteres Studium müssen sich sinnvoll ergänzen. In diesen Fällen ist die Rechtsprechung tendenziell großzügig. Ein fachlicher Zusammenhang wurde bejaht zwischen Bauzeichner/Architekturstudium; Bank- oder Speditionskaufmann/Jura- bzw. BWL-Studium, sogar Banklehre/Lehramtsstudium. Ebenso anästhesietechnische Assistentin/Medizinstudium u. a. Verneint wurde dies bei Finanzinspektor/Psychologiestudium, Europasektretärin/VWL, Industriekaufmann/Medizin. Die Entscheidung zum Studium muss in diesen Fällen nicht von vornherein bestanden haben und auch die für die Weiterbildung erforderliche Begabung muss nicht unbedingt schon während der Erstausbildung deutlich geworden sein.
Deutlich strenger die Rechtsprechung in den Fällen wir hier „Realschule – Lehre – FOS/Studium“, die jedoch das OLG Koblenz mit seiner „Nachreifungstheorie“ aufgeweicht hat.
Die Fälle der Zweitausbildung sind sehr häufig Gegenstand von unterhaltsrechtlichen Auseinandersetzungen, da grundsätzlich kein Anspruch auf eine Finanzierung einer Zweitausbildung besteht. Ausnahmen ansich nur unter besonderen Umständen, etwa wenn der erlernte Beruf aus gesundheitlichen oder sonstigen bei Ausbildungsbeginn nicht vorhersehbaren Gründen nicht ausgeübt werden kann (Braulehre und dann festgestellte Hefeallergie). Anders wenn die Erstausbildung nur auf dem Wunsch der Eltern beruhte, das Kind in einen Beruf gedrängt wurde, oder wenn die Erstausbildung auf einer deutlichen Fehleinschätzung des Kindes beruhte. Auch in dieser Rechtsprechung zur Zweitausbildung hat man die Problematik von „Spätentwicklern“ schon gesehen und dann auch eine zweite Ausbildung gestattet, die auch völlig unabhängig zur Erstausbildung sein konnte. Die genannten Fallkonstellationen sind eher Fälle der Weiterbildung und nicht der Zweitausbildung. Aber auch in den Fällen der Weiterbildung sind die oben genannten Kriterien zu beachten.