Mehrbedarf - BGH - 04.10.2017

Wird die Betreuung eines Kindes durch Dritte allein infolge der Berufstätigkeit des betreuenden Elternteils erforderlich, stellen die Betreuungskosten keinen Mehrbedarf dar, sondern gehören zur allgemeinen Betreuung, die vom betreuenden Elternteil im Gegenzug zur Barunterhaltspflicht des anderen allein zu leisten ist. Dafür entstehende Betreuungskosten können mithin lediglich als berufsbedingte Aufwendungen des betreuenden Elternteils (bei der Berechnung eines eventuellen Ehegattenunterhaltes) Berücksichtigung finden (im Anschluss an BGH, FamRZ 2007, Seite 882 und BGH, FamRZ 2008, Seite 1152).

Beschluss:
Gericht: BGH
Datum: 04.10.2017
Aktenzeichen: XII ZB 55/17
Leitparagraph: §§ 1606 Abs. 3, 1610 Abs. 2 BGB
Quelle: NZFam 2017, Seite 1101; FF 2018, Seite 26

Sachverhalt und Entscheidungsgründe: Die betreuende Mutter begehrt für ihr Kind/Kinder Mehrbedarf (monatlich 150 Euro) für eine von ihr beschäftigte Tagesmutter. Zunächst hatten die Eltern/Eheleute eine Vereinbarung zum Ehegattenunterhalt, in welcher die Kosten der privaten Tagesmutter und die vormaligen Kindergartenkosten beim Einkommen der Mutter als Abzugsposten Berücksichtigung fanden. Nachdem die Mutter eine besser bezahlte Arbeitsstelle angetreten hatte, verzichteten die ehemaligen Eheleute auf nachehelichen Ehegattenunterhalt. Die Mutter hat dann den Antrag gestellt – in Namen der von ihr betreuten Kinder – dass die Kosten der privaten Tagesmutter je zur Hälfte als Mehrbedarf zum Tabellenunterhalt vom Kindsvater zu bezahlen sind. Das Amtsgericht hat den Kindsvater zur Zahlung des jeweiligen Mehrbedarfs verpflichtet, auf die Beschwerde des Kindsvaters hat das OLG die Entscheidung abgeändert und die Anträge auf Mehrbedarf wegen der Tagesmutterkosten abgewiesen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Kindsmutter.

Das OLG hat ausgeführt, dass Betreuungskosten eines Kindes, die allein wegen der Berufstätigkeit des betreuenden Elternteils anfallen, keinen Mehrbedarf des Kindes darstellen. Hierzu zählten nur nicht von den Tabellenbeträgen erfasste, regelmäßig anfallende Kosten, die der Lebensführung des Kindes und nicht der Lebensführung des betreuenden Elternteiles zuzurechnen seien. Die Kosten einer Tagesmutter stellen ausschließlich berufsbedingte Aufwendungen dar. Nach der Rechtsprechung des BGH sind zwar Aufwendungen für Kindergartenbesuch oder auch Kinderhort zum Kindesbedarf zu rechnen, weil hierbei auch erzieherische Aufgaben erfüllt werden, sodass dem Gesichtspunkt der Ermöglichung einer Erwerbstätigkeit nur untergeordnete Bedeutung zukommt (Stichpunkt: im Vordergrund stehende pädagogische Aspekte). Der BGH stützt diese Entscheidung des OLG und führt ergänzend aus, dass Kosten der Fremdbetreuung nur ausnahmsweise als Mehrbedarf des Kindes anzusehen sind und dann anteilig nach ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen zu tragen sind (BGH, FamRZ 2017, 437). Nach der Rechtsprechung des BGH liegt ein solcher weitergehender Bedarf des Kindes vor bei den üblichen pädagogisch veranlassten Betreuungen in staatlichen Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Horten. Der BGH erkennt schon, dass in der Literatur vertreten wird, dass Betreuungskosten allgemein als Mehrbedarf des Kindes zu berücksichtigen sind (Palandt/Götz, § 1570 Rdn. 17 u. a.), andere gehen nur dann von einem Mehrbedarf des Kindes aus, wenn es keinen Ehegattenunterhaltsanspruch gibt (Wendl/Gerhardt, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 9. Auflage, § 1, Rdn. 1055). Hierzu erklärt der BGH, dass eine solche Qualifizierung der Kosten dem Gesetz widerspricht, da der eine Elternteil die Barunterhaltspflicht übernommen hat, der andere grundsätzlich die Betreuung. Konsequenterweise hat dann der grundsätzlich betreuende Elternteil auch etwaige Fremdbetreuungskosten zur tragen. Lediglich bei der Bemessung des Ehegattenunterhaltes können diese Kosten einkommensmindernd berücksichtigt werden, da im Gegenzug der andere Elternteil dann entsprechend höheren Ehegattenunterhalt zu bezahlen hat, was sich dann auch auf den Betreuungsunterhalt des Kindes auswirkt. Ein betreuungsbedingter Mehrbedarf des Kindes liegt deshalb nur dann vor, wenn bei der Betreuung besondere Förderung in Kindergärten, Kindertagesstätten oder Horten erfolgt, was auch in entsprechenden privaten Einrichtungen möglich ist. Das Stichwort des BGH: pädagogisch veranlasste Fremdbetreuung.

Im hier vorliegenden Fall sah der Arbeitsvertrag der Tagesmutter über die Abholung der Kinder von der Schule und die grundsätzlich auch der betreuenden Kindsmutter obliegende Hausaufgabenbetreuung keine weiteren pädagogischen Aufgaben vor. Die Fremdbetreuung umfasste daher nur Aufgaben – wie Essenszubereitung/leichte Hausarbeiten/Hausaufgabenüberwachung – die dem betreuenden Elternteil persönlich obliegen und löst daher keinen Mehrbedarf der Kinder aus.

⇒ Praxistipp:

Mit der Entscheidung des BGH steht nunmehr fest, dass „pädagogisch veranlasste“ Betreuungskosten (Kindergarten/Kindertagesstätte/Schulhort aber auch entsprechende private Einrichtungen mit pädagogischem Hintergrund) Mehrbedarf des Kindes sind, alle anderen monetären Betreuungskosten Sache des betreuenden Elternteils bleiben. Dies erscheint problematisch, denn eine scharfe Trennung hinsichtlich des Merkmals „pädagogisch veranlasst“ erscheint schwierig. Auch bürdet die Rechtsprechung einem betreuenden Elternteil erhebliche Erwerbsobliegenheiten auf, die jedoch zwangsläufig ggf. auch rein monetäre Betreuung notwendig machen, aber dann beim Unterhalt nicht berücksichtigt werden – insbesondere wenn ein Ehegattenunterhaltsanspruch nicht mehr besteht. Bei der Fremdbetreuung einen solchen Schnitt zu machen, wie es der BGH vornimmt, führt dazu, dass dem Elternteil, der Fremdbetreuung organisiert, anzuraten ist, hierbei möglichst viel „Pädagogik“ zu organisieren, um zu einem Mehrbedarf zu gelangen. Betreuende und zugleich erwerbstätige Elternteile sind vor diesem Hintergrund also nahezu verpflichtet, ihre Kinder „dauerpädagogisieren“ zu lassen, weil freies Spielen der Kinder zu Hause unter fremder Aufsicht keinen Mehrbedarf der Kinder auslöst. Dem Unterhaltsschuldner ist der Rat zu geben, bei der Geltendmachung von Betreuungskosten genau hinzuschauen, welcher pädagogische Ansatz gegeben ist, um ggf. einen Mehrbedarf ablehnen zu können. Wenn jedoch Einrichtungen, wie Kindergarten, Schulhort oder privater Hort besucht werden, gelten diese stets als pädagogisch veranlasst, egal ob z. B. nachmittags für 2 oder 5 Stunden. Die Vermutung pädagogischer Veranlassung wird in diesen Fällen schwer widerlegbar sein, aber nicht unmöglich.

Mehrbedarf / Sonderbedarf – Exkursion

Die obige Entscheidung des BGH wird zum Anlass genommen, das häufig kontrovers diskutierte Thema Mehrbedarf/Sonderbedarf des Kindes etwas näher zu beleuchten. Auch bei der Unterhaltsberechnung beim Wechselmodell spielt es eine wichtige Rolle, ob etwaige zusätzliche Kosten als Mehrbedarf oder Sonderbedarf oder eben nicht anzusetzenden Bedarf des Kindes handelt, um eine ordnungsgemäße Quotenunterhaltsberechnung durchführen zu könne. Beim Wechselmodell wird die obige Rechtsprechung zwar kaum oder nicht von Bedeutung sein, da keiner der Elternteile der klassische „betreuende“ Elternteil ist, der die normalen Aufgaben einer Tagesmutter mit zu erledigen hat. Die Entscheidung des BGH spielt daher grundsätzlich nur für das sogenannte Residenzmodell eine Rolle, die Einordnung als Mehrbedarf oder Sonderbedarf ist aber für alle Kindesunterhaltsberechnungen von Bedeutung:

Mehrbedarf:
Mehrbedarf ist ein regelmäßig wiederkehrender außergewöhnlich hoher Bedarf, welcher nicht in den pauschalierten Tabellenbetragssätzen mitberücksichtigt ist und kalkulierbar ist, also bei der Bemessung des laufenden Unterhalts berücksichtigt werden kann. Die üblichen Sätze richten sich grundsätzlich nach dem sogenannten Regelbedarf nach § 6 Abs. 1 RBEG (Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz). Dort sind für die Kinder in allen 3 Altersstufen der Düsseldorfer Tabelle in den Abteilungen 1 bis 12 die sogenannten Mindestbeträge genannt – aufgesplittet nach einzelnen Gruppen, wie Nahrungsmittel/Getränke, - Bekleidung/Schuhe – Freizeit/Unterhaltung usw. Ähnlich gestaltet sind auch die Begründungen für die jeweiligen Tabellenbeträge der Düsseldorfer Tabelle. Die Voraussetzungen für einen Mehrbedarf sind konkret darzulegen und nachzuweisen, Pauschalierungen verbieten sich. Angemessenheitsprüfung kann durch ein Gericht auch im Rahmen einer richterlichen Schätzung nach § 287 ZPO erfolgen.

Sonderbedarf:
Sonderbedarf ist ein unregelmäßig anfallender, also unvorhersehbarer außergewöhnlich hoher Bedarf, der von der pauschalen Bemessung des laufenden Bedarfs nicht erfasst ist (§ 1613 Abs. 3 Ziffer 1 BGB). Die Abgrenzung zwischen Sonderbedarf und Mehrbedarf erfolgt danach, ob die zusätzlichen Kosten vorhersehbar waren (dann kein Sonderbedarf sondern ggf. Mehrbedarf) und ob es sich um eine laufende, wiederkehrende Erhöhung des Bedarfs handelt oder um einen einmaligen Anfall dieses Sonderbedarfs. Nicht jeglichen Sonderbedarf hat der Barunterhaltsschuldner mitzutragen, sondern richtet sich auch nach Angemessenheit, Leistungsfähigkeit etc. Grundsätzlich kann Sonderbedarf auch rückwirkend bis zu einem Jahr geltend gemacht werden. Trotzdem ist dem Unterhaltsgläubiger zuraten, rechtzeitig seiner Obliegenheit nachzukommen, den Schuldner darauf hinzuweisen, dass möglicherweise Sonderbedarf entstehen kann. In vielen Fällen kann jedoch Sonderbedarf im Voraus nicht angekündigt werden, das liegt in der Natur der Sache.

Einzelfälle Mehrbedarf:

  • Arzneimittelzuzahlungen/ Krankheitsbedingte Mehrkosten
    OLG Karlsruhe, NJW-RR 2008, 1458
  • Nachhilfeunterricht
    BGH, NJW 2013, 2900
  • Internat
    KG Berlin, FuR 2003, 178 Hortbesuch
    OLG Naumburg, NJW 2012, 623
  • Schulgeld
    OLG Brandenburg, NJW 2008, 2722
  • Auslandssemester
    OLG Hamm, FamRZ 2014, 563
  • Kranken- und Pflegeversicherung
    OLG Hamm, NJW 2013, 2911, wobei allein vom Barunterhaltspflichtigen zu tragen
  • Studiengebühren
    OLG Brandenburg, FamRZ 2014, 847
  • Kindergarten
    BGH, NJW 2013, 2900
  • Klavierunterricht
    OLG Hamm, NJW-RR 2013, 134
  • Reitunterricht/Trainerstunden
    OLG Frankfurt, NJW-RR 2015, 260
  • Kommunion/Konfirmation
    BGH, NJW 2006, 1509

Bei jedwedem Mehrbedarf muss der Unterhaltsberechtigte den Unterhaltspflichtigen vor Anfall und Bezahlung der Kosten (z. B. vor einer Klassenreise) zur Zahlung der Kosten als Mehrbedarf auffordern und ggf. in Verzug setzen, anderenfalls geht der Anspruch verloren. Dann muss jeweils geprüft werden, ob die Kosten im laufenden Unterhalt beinhaltet sind oder außergewöhnlich hoch sind. Sämtliche Mehrbedarfskosten sind und müssen voraussehbar sein, sodass letztendlich ab dem Zeitpunkt der Voraussehbarkeit der Unterhaltsschuldner zur (Mit-)Tragung der Kosten aufgefordert werden muss. Weiterhin immer von Bedeutung, ob derartige Kosten schon bei intakter Ehe bezahlt wurden (z. B. Reitunterricht/Tennistrainerstunden), ob Einverständnis bestand und ob bei kostenintensiven Einrichtungen (z. B. Privatschule) im Vergleich zu kostenfreien Angeboten gewichtige Gründe vorliegen. Die Kosten eines Führerscheins werden kontrovers behandelt, in keinem Fall Sonderbedarf aber evtl. Mehrbedarf mit dem Argument der Erweiterung der Berufschancen (OLG Karlsruhe, FamRZ 2012, Seite 1573), aber grundsätzlich sind die Kosten für Führerschein „Privatvergnügen“.


Einzelfälle Sonderbedarf:

  • Kieferorthopädische Behandlung (Spange)
    OLG Frankfurt, FamRZ 2011, 570 (jedoch Mehrbedarf bei regelmäßiger Ratenzahlung an den Zahnarzt)
  • Computer
    OLG Hamm, NJW 2004, 858 wenn notwendig/behinderungsbedingt
  • Schüleraustausch
    OLH Hamm, NJW 2011, 1078 kritisch, weil voraussehbar
  • einmalige Allergieaufwendungen
    OLG Karlsruhe, FamRZ 1992, 850 (Bettwäsche)
  • Babyerstausstattung
    OLG Celle, FamRZ 2009, 704

Die Auflistung ist selbstverständlich nicht abschließend, weitere Einzelheiten hierzu im ISUV-Merkblatt Nr. 23 (Unterhaltsanspruch minderjähriger Kinder) bzw. bei Ebert, NZFam 2016, Seite 438 ff. Abschließend wird nochmals darauf hingewiesen, dass grundsätzlich Mehrbedarfs-/Sonderbedarfskosten von den Eltern anteilig entsprechend ihrer Einkommensverhältnisse quotal zu tragen sind. Wie bei der Bemessung des Volljährigenunterhalts ist hierbei von jedem Einkommen der Elternteile der angemessene Sockelbetrag von 1300 Euro abzuziehen und aus den verbleibenden Beträgen die Übernahmequote der Kosten quotal/prozentual zu errechnen.