Sorgerecht - OLG Frankfurt a.M. - 17.08.2021 (Corona Rechtsprechung)


Auch bei vorhandener Einwilligungsfähigkeit in eine Corona-Schutzimpfung bei einem fast 16-jährigen Kind bedarf es eines Co-Konsenses mit den sorgeberechtigen Eltern. Können diese sich in der Frage nicht einigen, ist die Entscheidung über die Durchführung der Corona-Impfung mit einem mRNA-Impfstoff bei einer vorhandenen Empfehlung der Impfung durch die STIKO und bei einem die Impfung befürwortenden Kindeswillen auf denjenigen Elternteil zu übertragen, der die Impfung befürwortet.

Beschluss:
Gericht: OLG Frankfurt a.M.,
Datum: 17.08.2021
Aktenzeichen: Az. 6 UF 120/21
Leitparagraph: §§ 1628, 1687 BGB
Quelle: FamRZ 2021, Seite 1533, NZFam 2021, Seite 872

Kommentierung:

Am 16.08.2021 hat die STIKO ihre Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren aktualisiert und empfiehlt aufgrund einer Risiko-Nutzen-Abwägung diese Impfung.

Drei Konfliktsituationen sind denkbar:

  • Die Eltern eines Jugendlichen sind sich über seine COVID-19-Impfung nicht einig.
  • Die Eltern möchten, dass der Jugendliche sich gegen COVID-19 impft, der Jugendliche lehnt dies jedoch ab.
  • Ein Jugendlicher möchte die Impfung, die Eltern hingegen nicht.

Fall 1:
Es ist anerkannt, dass die Schutzimpfung eines Minderjährigen regelmäßig eine Angelegenheit von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 1687 Abs. 1 BGB und für ihre Durchführung deshalb das Einvernehmen der Eltern erforderlich ist (BGH, NJW 2017, Seite 2826). Begründet wird dies damit, dass sowohl das durch die Impfung vermeidbare Krankheitsrisiko als auch das mit ihr verbundene Risiko eines Impfschadens keine Alltagsangelegenheit ist.

Wenn die Eltern unterschiedliche Standpunkte diesbezüglich haben, hat das Familiengericht auf Antrag demjenigen Elternteil die Entscheidungsbefugnis nach § 1628 BGB allein zu übertragen, der unter Berücksichtigung der Umstände des konkreten Einzelfalls das für das Kind bessere Lösungskonzept verfolgt.

Besteht keine Impfpflicht, wird das Familiengericht der Empfehlung der STIKO zugunsten einer Impfung regelmäßig ausschlaggebenden Gewicht zumessen und die Alleinentscheidungsbefugnis auf den impfwilligen Elternteil übertragen. So letztendlich auch die Entscheidung des OLG Frankfurt, Beschluss vom 17.08.2021, Az. 6 UF 120/21. Hier hat das OLG auch noch darauf hingewiesen, dass es bei einem fast 16-jährigen eines sogenannten Co-Konsenses bedürfte, wenn der Jugendliche selbst impfbereit ist, sodass auch in diesem Fall eine Entscheidung nach § 1628 BGB (Alleinentscheidungsbefugnis eines Elternteils) geboten ist. Das OLG hat sich auch mit dem Kindeswillen nach § 1697 a BGB auseinandergesetzt, und festgehalten, dass der fast 16-Jährige aufgrund seines Alters und seiner Entwicklung im Stande sei, sich eine eigene Meinung über den Nutzen und die Risiken der Corona-Schutzimpfung zu bilden (wenn das Kind sich im Hinblick auf sein Alter und seine Entwicklung eine eigenständige Meinung zum Gegenstand des Sorgerechtsstreits bilden kann, was bei einem fast 16-jährigen im Regelfall zutrifft, hierzu auch noch Fall 2/3).

Fall 2:
In diesem Fall stellt sich die Frage, ob der Jugendliche eine sogenannte Eigenzuständigkeit hat. Mit zunehmender Reife gewinnt die Selbstbestimmung des Kindes an Gewicht und die elterliche Kompetenz zur Personensorge tritt zurück.

Eine Impfung ist ein Heileingriff und an sich eine Körperverletzung. Durch wirksame Einwilligung der einwilligungsfähigen Person in seine körperliche Unversehrtheit wird dies gerechtfertigt. Maßgeblich ist, ob das Kind/Jugendlicher nach seiner geistigen und sittlichen Reife die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs zu ermessen vermag. Die Anforderungen an die Einsichtsfähigkeit sind umso höher, je schwerwiegender, gefährlicher und komplexer ein Eingriff ist und je mehr vom medizinischen Standard abgewichen wird. Eine starre Altersgrenze lässt sich insoweit nicht ziehen. Aufgrund anderer Rechtsnormen wird teilweise eine grundsätzliche Einwilligungsfähigkeit mit Vollendung des 14. Lebensjahres angenommen, sofern keine schwere und nachhaltige Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit zu befürchten steht.

Liegt nach diesen Maßstäben eine Einwilligungsfähigkeit des Kindes vor, hat es auch ein Vetorecht. Regelmäßig nimmt man dies ab dem 14. Lebensjahr an. Gegen den Willen des 14-jährigen und älteren Kindes wird eine Impfung nicht möglich sein.

Fall 3:
Auch hier ist die sogenannte Einwilligungsfähigkeit des Jugendlichen von maßgeblicher Bedeutung. Ein einwilligungsfähiger Jugendlicher kann daher nach ausreichender ärztlicher Aufklärung über Risiken und Nutzen rechtswirksam in die Impfung einwilligen.

Nicht abschließend geklärt ist, ob impfunwillige Eltern die Impfung durch ihr Veto verhindern könnten. Dies wird bei schwierigen und möglicherweise folgenreichen medizinischen Eingriffen/Operationen teilweise noch vertreten (BGH, NJW 1972, Seite 235; OLG Frankfurt a. M., FamRZ 2020, Seite 336). Diese Rechtsprechung wird systemwidrig verneint (OLG Hamm, NJW 2020, Seite 1373), da das Recht zur Einwilligung als Ausdruck partieller Mündigkeit nicht vom elterlichen Zutun abhängig gemacht werden kann. Dieser Rechtsgedanke findet sowohl in § 630 d BGB (Behandlungsvertrag) als auch in § 1697 a BGB wieder. Einen elterlichen Zustimmungsvorbehalt kennen diese Normen nicht.

Danach dürfte bei Jugendlichen über 14 Jahre eine alleinige Entscheidungskompetenz hinsichtlich der COVID-19-Schutzimpfung vorliegen, selbstverständlich nur weil es die Empfehlung der STIKO gibt (so auch Landgericht München, Entscheidung vom 22.09.2020, Az. I O 4890/17 zu einer Kreuzbandplastik). Der Jugendliche ist zumindest ab dem 14. Lebensjahr als teilmündig anzusehen.

Dass das OLG Frankfurt a. M. mit Beschluss vom 17.08.2021 noch einen Co-Konsens für notwendig erachtet hat, ist wohl nur damit zu erklären, dass hier die Eltern unterschiedlicher Meinung waren und daher „vorsichtshalber“ noch für den impfwilligen Jugendlichen ein impfwilliger Elternteil „an die Seite gestellt wurde“. Ob das OLG Frankfurt a. M. einen Co-Konsens mit einem Elternteil für notwendig erachtet hätte, wenn beide Elternteile ihre Einwilligung zur Impfung verweigert hätten, ist fraglich und wäre nach diesseitiger Auffassung bei einem einwilligungsfähigen Jugendlichen wohl nicht zu rechtfertigen (so auch Opitz, NZFam 2021, Seite 767-769, mit OLG Hamm, LG München, siehe oben). In dieser Frage sind sich die „Gelehrten“ noch uneins. So vertritt auch Schmidt in NJW 2021, Seite 2688 ff. die Auffassung, dass mit dem OLG Frankfurt a. M. sowohl die Einwilligung des einsichtsfähigen Kindes als auch der Sorgeberechtigten erforderlich ist, bzw. zumindest eines Sorgeberechtigten, dem im Streitfall die Alleinentscheidungsbefugnis übertragen wurde (sogenannter Co-Konsens).

Auch in der Praxis verlangt z. B. das Impfzentrum oder mobile Impfzentren die Einwilligung bei Minderjährigen der Eltern. Auch da ist die Handhabe nach der Erfahrung sehr unterschiedlich, ob die Einwilligung eines Elternteils oder beider Elternteile verlangt wird. Das Verlangen der Einwilligung von Eltern ist in einem Impfzentrum nachvollziehbar, da schon aus Zeitgründen zumindest in den Stoßzeiten der Impfung eine ärztliche Aufklärung für einen Minderjährigen nicht ausreichend gewährleitstet war. In Arzt- oder Kinderarztpraxen wird dies auch unterschiedlich gehandhabt. Immer abhängig davon, ob der jeweilige Arzt die Impfung schnell durchführen will und letztendlich nicht die Zeit für ein Aufklärungsgespräch investieren will. Dann wird in der Praxis die Einwilligung eines Elternteils – an sich zu wenig – oder beider Elternteile verlangt. Wenn sich ein Arzt die Zeit nimmt für die entsprechende Aufklärung, wird er auch bei entsprechender Einsichtsfähigkeit des Kindes, welches ab dem 14. Lebensjahr angenommen wird, ohne Einwilligung der Eltern eine Impfung vornehmen können. Ob der Mut der Ärzte in solchen Fallkonstellationen vorhanden ist, wird einzelfallabhängig sein. Ein Arzt wird jedoch zur Vermeidung von Haftungsrisiken eine Corona-Impfung auch bei einsichtsfähigen minderjährigen Kindern ohne Einwilligung kaum durchführen. Beim einsichtsfähigen Kind bedarf es also seiner Zustimmung als auch das aller Sorgeberechtigten. Ob ein Arzt dann es für ausreichend erachtet, wenn ein Kind mit einem Elternteil zum Impftermin erscheint, wird in der Praxis wohl unterschiedlich gehandhabt. Ganz streng genommen wäre bei der vertretenen Rechtsauffassung, dass ein einsichtsfähiger Minderjähriger einen Co-Konsens mit den Sorgeberechtigten benötigt, von allen Sorgeberechtigten benötigt. Vertritt man die Rechtsauffassung, dass wenn ein einsichtsfähiger Minderjähriger die Impfung will und dies ausreichend ist, dann bedarf es keiner Einwilligung von Sorgeberechtigten.

Die Praxis wird zeigen, wie es die Ärzte bei der Impfung handhaben, vertretbar ist in dieser Frage bei einsichtsfähigen Minderjährigen „alles“. Interessant hierzu auch die Kommentierung von Opitz in NZFam 2021, Seite 874, die auch nach Auffassung des Verfassers die „Co-Einwilligung“ eines Elternteils bei Einwilligungsfähigkeit des minderjährigen Kindes, wie es das OLG Frankfurt sieht, berechtigt kritisiert.