Umgangsrecht - EGMR - 24.10.2023
Der Umgangsausschluss von acht Monaten verstieß gegen Artikel 8 EMRK, da das Oberlandesgericht den amtsgerichtlich geregelten unbegleiteten Umgang ohne erneute Anhörung des Kindes oder Einholung eines von den Fachkräften empfohlenen Sachverständigengutachtens befristet ausgeschlossen hat.
Beschluss:
Gericht: EGMR
Beschwerde-Nr: 48698/21
Leitparagraph: Artikel 8 EMRK, § 1684 IV BGB, §§ 68 III
Quelle: 159 FamFG, FamRZ 2024, 43; FuR 2024, 140; NZFam 2023, 1134
Datum: 24.10.2023
I. Folgender Sachverhalt lag zu Grunde:
Der Beschwerdeführer und die Mutter der am 10.12.2008 geborenen gemeinsamen Tochter wurden 2016 geschieden. Seitdem lebt das Kind bei der Mutter, wobei die Eltern seit Jahren über den Umgang streiten und mehrere vorläufige Regelungen letztendlich scheiterten.
Am 26.02.2019 beschloss das Familiengericht einen regelmäßigen Umgang einschließlich Ferienumgängen, wobei das Familiengericht berücksichtigte, dass das Kind in der jüngsten mündlichen Anhörung erklärt hatte, den Beschwerdeführer nicht sehen zu wollen. Das Familiengericht stützte seine Umgangsregelung auf die Stellungnahmen der beteiligten Fachkräfte, die sich einstimmig für einen unbegleiteten Umgang aussprachen.
Nach Einlegung einer Beschwerde durch die Mutter und den Beschwerdeführer sprachen sich die Fachkräfte jeweils für die Einholung eines Sachverständigengutachtens aus. Am 04.07.2019 hörte das Oberlandesgericht die Eltern, das Jugendamt und die Umgangspflegerin an, nicht aber das Kind und schloss am 31.10.2019 den Umgang des Beschwerdeführers mit seiner Tochter bis einschließlich 30.06.2020 aus. Es stütze seine Entscheidung auf den bereits im erstinstanzlichen Verfahren geäußerten Kindeswillen, den Vater nicht sehen zu wollen, wobei es auch berücksichtigte, dass die Mutter den Umgang nicht nur nicht gefördert, sondern jedenfalls nonverbal die Umgangsablehnung des Kindes gefördert habe. Das Oberlandesgericht vertrat die Auffassung, dass der Kindeswille trotz möglicher Beeinflussung durch die Mutter autonom gebildet sei. Einzelne vom Familiengericht durchgeführte Verfahrenshandlungen seien nicht erneut durchzuführen, da hiervon keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten seien. Die gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts eingelegte Verfassungsbeschwerde wies das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung zurück.
Auf die vom Verfasser für den Beschwerdeführer erhobene Menschenrechtsbeschwerde entschied der EGMR einstimmig, dass eine Verletzung von Artikel 8 EMRK durch den befristeten Umgangsausschluss vorlag und sprach ihm 6.000,00 € als immaterielle Entschädigung sowie Kosten und Auslagen zu. Das Urteil ist rechtskräftig.
II. Entscheidung des EGMR:
Der EGMR sah eine Verletzung von Artikel 8 EMRK darin, dass die sich daraus ergebenden Verfahrenserfordernisse nicht erfüllt waren und der Umgangsausschluss nicht „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war. Der Gerichtshof stellt insoweit fest, dass das Oberlandesgericht sich ohne eine erneute Anhörung des zum damaligen Zeitpunkt zehnjährigen Kindes maßgeblich auf dessen Äußerungen vor dem Familiengericht gestützt hat, ihren Vater nicht sehen zu wollen. Auch wenn eine Anhörung des Kindes nicht unter allen Umständen erforderlich sei und die letzte Anhörung etwa acht Monate zurücklag, vertritt der Gerichtshof die Auffassung, dass nicht zu verkennen sei, dass das Oberlandesgericht aus der Kindesanhörung andere Schlussfolgerungen zog als das Familiengericht, das einen unbegleiteten Umgang im Lichte der insgesamt der Rechtssache vorliegenden Beweise angeordnet hatte. Darüber hinaus hätten sowohl das Familiengericht als auch das Oberlandesgericht Bedenken geäußert, dass die Kindesmutter die Umgangsablehnung durch das Kind beeinflusst oder gar gefördert haben könnte, womit sich das Oberlandesgericht nicht hinreichend auseinandergesetzt habe und sich auch nicht im Detail mit der Tatsache, dass alle anderen Fachkräfte die Einholung eines Sachverständigengutachtens empfohlen haben. Vor diesem Hintergrund war der Gerichtshof nicht überzeugt, dass das Oberlandesgericht seine Entscheidung auf der Grundlage hinreichend substantiierter Tatsachen traf.
III. Fazit:
Der Gerichtshof legt damit auf Grundlage seiner Rechtsprechung strenge Maßstäbe bei der Einschränkung oder dem Ausschluss von Umgangsrechten zu Grunde.
Der Gesetzgeber hat 2021 den Anforderungen der Rechtsprechung des EGMR entsprechend in § 68 V Nr. 2 FamFG geregelt, dass von einer erneuten Kindesanhörung durch das Oberlandesgericht nicht abgesehen werden kann, wenn ein Ausschluss des Umgangsrechts nach § 1684 BGB in Betracht kommt.
Mitgeteilt von Fachanwalt für Familienrecht Georg Rixe, Bielefeld
Meinung: Umgangsausschluss
Umgangsausschluss ist grundsätzlich kritisch zu sehen, insbesondere dann, wenn beide Elternteile sich redlich um das gemeinsame Kind und sein Wohl bemühen.
Das Verhalten der deutschen Gerichte kommt dabei in der Gesamtschau sehr schlecht weg: Ein Kind wird nur einmal angehört, man schließt also Gesinnungswandel von vornherein aus. Gehört werden nur die „Experten“, d. h. Entscheidung aus der „hohen Warte“ der Wissenschaft, kein oder nur geringes sich Einlassen auf die Betroffenen. Gewagt ist dabei die Argumentation des OLG: „Das Oberlandesgericht vertrat die Auffassung, dass der Kindeswille trotz möglicher Beeinflussung durch die Mutter autonom gebildet sei.“ – Darauf muss man erst einmal kommen. – Ja, dann das Bundesverfassungsgericht, - „Hüter der Verfassung“- lehnt einfach ab ohne Begründung. Dabei ist es durch das Grundgesetz direkt gefordert: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ (Artikel 6, GG). Genau darum geht es hier – Arbeitsverweigerung.
Es würde der deutschen Justiz und der Rechtspolitik grundsätzlich guttun, öfter einmal über die Grenzen zu schauen, den Blick zu weiten und die EGMR-Standards ins deutsche Familienrecht einzuarbeiten. Bei Umgangsausschluss geht es um Grundsätzliches. Der EGMR hebt hervor, dass Umgangsausschluss nicht „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sei. Legitimiert ist Umgangsausschluss nur bei nachgewiesener Gewalt gegenüber Kind oder zwischen den Eltern und bei nachgewiesenem sexuellem Missbrauch. EGMR-Standard ist auch die Anhörung des Kindes in jeder Instanz. Beeinflussung und Manipulation des Kindeswillens – so der EGMR – muss auf den Grund gegangen werden. Das heißt im Klartext, deutsche Gerichte, insbesondere das OLG haben schlampig, nachlässig gearbeitet. Beim Bundesverfassungsgericht liegt Arbeitsverweigerung vor.
Was am Ende wirklich bleibt nach jahrelangem Prozessieren, sind Fragen: Wird diese Urteil Auswirkungen auf Familienrecht und Familiengerichte haben? Kommt der Kontakt mit der Tochter doch noch einmal zustande? Haben sich die Fronten zwischen den Eltern durch langjähriges Prozessieren weiter verhärtet? Wurde nur viel Geld verbrannt? – Immerhin bekam der Kläger eine Entschädigung von 6000 EURO zugesprochen und seine Auslagen werden ihm ersetzt. Ist der Kläger jetzt in der tragischen Rolle des Michael Kohlhaas?
Josef Linsler