Beschleunigungsbeschwerde für alle Verfahren vor allen Gerichten
Es ist immer nervenaufreibend, wenn ein Gerichtsverfahren sich lange hinzieht. Es ist aber fatal, wenn sich ein Prozess um das Sorge- und Umgangsrecht in die Länge zieht. In vielen Fällen bekommen Betroffene recht, aber das Kind ist sprichwörtlich schon „in den Brunnen gefallen“, der Kontakt zu einem Elternteil ist unterbrochen, teils für immer. Immer wieder hat der Interessenverband Unterhalt und Familienrecht (ISUV) deswegen die Einführung einer Untätigkeitsbeschwerde gefordert. Auf Drängen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) einen Referentenentwurf mit einem “Regelungsvorschlag zur Schaffung eines präventiven Rechtsbehelfs bei überlangen Verfahren in bestimmten Kindschaftssachen” vorgelegt. ISUV fordert, dass die Beschleunigungsbeschwerde für alle Verfahren vor allen Gerichten gelten soll.
Rechtsanwalt Georg Rixe hat für ISUV eine Stellungnahme zum Gesetzentwurf des BMJV verfasst. Rixe hat sich seit Jahren auf Grund leidvoller Erfahrung als Fachanwalt für Familienrecht für die Einführung einer Beschleunigungsbeschwerde engagiert und letztlich die Initiative des BMJV vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrecht erstritten. Wir fragten Rixe nach der Einschätzung des vorgelegten Gesetzentwurfs.
Wie beurteilen Sie und ISUV den vorgelegten Entwurf?
Rixe: ISUV fordert, dass die Einführung eines Beschleunigungsrechtsbehelfs nicht nur auf die vom Diskussionsentwurf des BMJV in Bezug genommenen wenigen Kindschaftssachen gemäß § 155 I FamFG - Verfahren betreffend den Aufenthalt des Kindes, das Umgangsrecht, die Herausgabe des Kindes sowie wegen Gefährdung des Kindeswohls - beschränkt wird. Vielmehr sollte sich die Neuregelung auf alle Verfahren in sämtlichen Gerichtsbarkeiten erstrecken, insbesondere auch auf die Verfahren, in denen die Dauer nachteilige Auswirkungen auf die Rechtsposition des Betroffenen haben kann. Des Weiteren sollte das Verfahren der Verzögerungsbeschwerde deutlich effektiver ausgestaltet werden.
ISUV fordert in der Stellungnahme, dass die Verzögerungsbeschwerde „in allen Gerichtsbarkeiten“ eingeführt werden sollte. Was bedeutet das, was soll erreicht werden?
Rixe: Wie im früheren, nicht umgesetzten Gesetzesentwurf der Bundesregierung aus 2005 vorgesehen, sollte für Verfahren in sämtlichen Gerichtsbarkeiten, also der Zivilgerichtsbarkeit, Strafgerichtsbarkeit, Verwaltungsgerichtsbarkeit, Finanzgerichtsbarkeit und Sozialgerichtsbarkeit einschließlich der Verfassungsgerichtsbarkeit, eine Beschleunigungsbeschwerde eingeführt werden angesichts des verfassungsrechtlichen Anspruchs des Betroffenen auf den Abschluss von Verfahren in angemessener Zeit. Überlange Gerichtsverfahren führen zu erheblichen Belastungen der Betroffenen und können auch in der Sache erhebliche Nachteile zur Folge haben, da der Zeitablauf das Ergebnis der Verfahren maßgeblich beeinflussen kann. Das gilt nicht nur für sämtliche Kindschaftssachen sowie alle Familien-, Betreuungs- und Unterbringungssachen, sondern beispielsweise auch für erbrechtliche, ausländerrechtliche und strafrechtliche Verfahren sowie Verfahren zur Durchsetzung der Meinungs- oder Pressefreiheit sowie der Demonstrationsfreiheit. Allein die Zahlung einer Entschädigung nach einem abgeschlossenen überlangen Verfahren kann im Regelfall die entstandenen Nachteile nicht hinreichend wiedergutmachen, sodass es das vorrangige Ziel sein muss, überlange Verfahren von vornherein zu verhindern.
Nach Auffassung von ISUV soll die Beschleunigungsbeschwerde nicht nur in Kindschaftssachen gemäß § 155 I FamFG, sondern auch „in allen kindschaftsrechtlichen Verfahren“ möglich sein. An welche Verfahren wird gedacht?
Rixe: § 155 I FamFG betrifft lediglich die Verfahren über den Aufenthalt des Kindes, das Umgangsrecht oder die Herausgabe des Kindes sowie Verfahren wegen Gefährdung des Kindeswohls. Es betrifft aber beispielsweise nicht sonstige Verfahren der elterlichen Sorge, das Recht auf Auskunft über die persönlichen Verhältnisse des Kindes, Vormundschaftssachen, Pflegschaftssachen im Hinblick auf Minderjährige, die Genehmigung der freiheitsentziehenden Unterbringung eines Minderjährigen, die Anordnung der freiheitsentziehenden Unterbringung eines Minderjährigen nach den Landesgesetzen sowie Aufgaben des Familiengerichts nach dem Jugendgerichtsgesetz. Auch in diesen Verfahren können sich nachteilige Auswirkungen der Verfahrensdauer auf die Rechtsposition der Betroffenen ergeben.
ISUV fordert, dass das Beschleunigungsverfahren „effektiver“ werden soll. Wie lässt sich das erreichen?
Rixe: Das Verfahren der Beschleunigungsbeschwerde ist insbesondere dadurch zu effektivieren, dass diese nicht erst dann zulässig ist, wenn das Verfahren bereits überlang ist, sondern bereits dann, wenn eine überlange Verfahrensdauer droht. Des Weiteren sollte das Ausgangsgericht nicht lediglich innerhalb eines Monats, sondern bereits zwei Wochen nach Eingang der Rüge durch Beschluss über diese entscheiden, um das Verfahren zu beschleunigen. Weiterhin sollte das Beschwerdegericht ermächtigt werden, dem Ausgangsgericht eine Frist zur Ergreifung von Beschleunigungsmaßnahmen zu setzen, um einen verbindlichen Rechtsrahmen zu schaffen, der eine effektive Umsetzung sicherstellt.
In der von Ihnen verfassten Stellungnahme des ISUV wird eine „Kombinationslösung“ gefordert. Was hat man darunter zu verstehen?
Rixe: Nach der bisherigen gesetzlichen Regelung gibt es lediglich einen Entschädigungsanspruch für bereits überlange Verfahren, ohne dass dieser nach der Entscheidung des Gerichtshofs vom 15.01.2015 - 62198/11 - im Verfahren Kuppinger/Deutschland (Nr. 2) eine beschleunigende Wirkung hat. Jedoch hat der Betroffene einen vorrangigen Anspruch auf Verhinderung beziehungsweise zügige Beendigung überlanger Verfahren und - soweit dieses Ziel nicht erreicht wird -, zusätzlich auf Wiedergutmachung durch eine Entschädigung, die den materiellen Schaden und Schmerzensgeld umfasst. Durch eine Kombination dieser beiden Rechtsbehelfe wird der Rechtschutzanspruch Betroffener am effektivsten verwirklicht.
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