Sorgerecht - BVerfG - 16.04.2014, 22.05.2014 und vom 22.09.2014

 

Sorgerechtliche Entscheidungen nehmen bei den familienrechtlichen Entscheidungen des BVerfG im Zeitraum 2014/2015 breiten Raum ein. In einer Vielzahl von Entscheidungen hat sich das BVerfG hierzu geäußert und „strenge Maßstäbe“ für einen Sorgerechtsentzug angesetzt. Zumeist handelt es sich hier um den Sorgerechtsentzugs für beide Elternteile.

Dem BVerfG obliegt grundsätzlich nur die Kontrolle, ob die angegriffene Entscheidung Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts. Dies gilt bei der Überprüfung von sorgerechtlichen Entscheidungen bei Trennung und Scheidung gemäß § 1671 BGB.

Beschluss:
Gericht: BverfG
Datum: 16.04.2014
Aktenzeichen: 1 BvR 3360/13
Quelle: FamRZ 2014, Seite 1179 und NZFam 2014, Seite 715

Kommentierung:

Mit diesem Beschluss hat das BVerfG herausgestellt, dass der Prüfungsmaßstab, den das BVerfG an eine fachgerichtliche Entscheidung anlegt, die auf Antrag eines Elternteils die künftige Wahrnehmung der elterlichen Sorge regele (§ 1671 BGB), deutlich zurückgenommen ist gegenüber solchen Entscheidungen – die nachfolgenden – in denen es um den Entzug der elterlichen Sorge zwecks Trennung des Kindes von den (beiden) Eltern gehe. Bei der Trennung eines Kindes von beiden Eltern liegt eine besondere Eingriffsintensität vor, bei denen sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle auch auf einzelne Auslegungsfehler sowie auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts stellen.

Bei Sorgerechtsentscheidungen zwischen den Eltern hingegen beschränkt sich die Aufgabe des BVerfG grundsätzlich darauf zu prüfen, ob die Vorgerichte eine Entscheidung getroffen haben, die dem Wohl des Kindes entspricht und dabei die Tragweite der Grundrechte aller Beteiligten nicht grundlegend verkannt hat. Damit ist die verfassungsrechtliche Prüfung „normaler“ Sorgerechtsentscheidungen, die eine Sorgerechtsbestimmung zwischen den Eltern beinhaltet, vom Verfassungsgericht nicht in der Intensität prüfbar wie bei Komplettentzug.

- - - - - -

§ 1696 Abs. 1 BGB stellt im Interesse des Kindes aus Kontinuitätsgründen sicher, dass eine einmal getroffene Sorgerechtsentscheidung, obgleich sie nicht in materielle Rechtskraft erwächst, nicht beliebig und jederzeit, sondern erst nach Erreichen der genannten Änderungsschwelle modifizierbar ist.

Beschluss:
Gericht: BVerfG
Datum: 22.09.2014
Aktenzeichen: 1 BvR 2102/14
Quelle: FamRZ 2015, Seite 210

Kommentierung:

Auch die Regelung des § 1696 BGB, wonach die Abänderung einer sorgerechtlichen Entscheidung nur aufgrund triftiger, das Wohl des Kindes nachhaltig berührender Gründe möglich ist, ist verfassungsrechtlich unbedenklich (BVerfG, FamRZ 2015, Seite 210). § 1696 BGB stellt den Kontinuitätsgrundsatz sicher, wonach eine einmal getroffene Sorgerechtsentscheidung nicht beliebig und jederzeit, sondern erst nach Erreichen einer hohen Änderungsschwelle abänderbar ist. Die Entscheidung macht deutlich, welch entscheidende und einschneidende Bedeutung einer in einem Sorge- oder Umgangsrechtsverfahrens einmal getroffene Entscheidung, aber auch einem gerichtlich gebilligtem Vergleich zukommt. Eine solche „Vorentscheidung“ bindet und ist wie gesagt nur schwer abänderbar wegen der vom Gesetzgeber aufgestellten Hürden. Das BVerfG macht deutliche, dass der sogenannte Kontinuitätsgrundsatz aus Kindeswohlgründen von hoher Bedeutung ist.

- - - - - -

1. Eine Trennung des Kindes von seinen Eltern als stärkster Eingriff in das Elternrecht unterliegt strenger verfassungsrechtlicher Kontrolle. Die Trennung ist nur zu dem Zweck zulässig, das Kind vor nachhaltigen Gefährdungen zu schützen, und darf nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen.

2. Dabei sind sowohl an die Kindeswohl- als auch an die Verhältnismäßigkeitsprüfung spezifische Anforderungen zu stellen, wenn die Sorgerechtsentziehung hinsichtlich eines bereits in einer Pflegefamilie untergebrachten Kindes in Streit steht, dessen Rückführung die Ursprungseltern zu sich begehren

Beschluss:
Gericht: BVerfG
Datum: 22.05.2014
Aktenzeichen: 1 BvR 2882/13
Quelle: FamRZ 2014, Seite 1266

Kommentierung:

Diese Entscheidung ist exemplarisch für eine Vielzahl von Entscheidungen des BVerfG zur Verhältnismäßigkeit/Unverhältnismäßigkeit des Sorgerechtsentzugs beider Elternteile. Bei Entscheidungen zur elterlichen Sorge zwecks Trennung des Kindes von beiden Elternteilen (Herausnahme aus der Familie) erweitert sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle auch auf Fehler der Instanzgerichte bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhaltes. Den Gerichten wird damit aufgegeben den Einzelsachverhalt dezidiert zu ermitteln, und entsprechend ihre Entscheidung ausführlichst zu begründen und dabei den Einzelsachverhalt ausreichend zu würdigen. Die Entziehung des Sorgerechts und die damit bezweckte Fremdunterbringung muss geeignet sein, eine tatsächlich festgestellte Gefahr für das Kind zu beseitigen und es dürfen keine milderen Mittel erkennbar sein, um der Gefahr für das Kind entgegenzuwirken (BVerfG, FamRZ 2014, Seite 1177). So ist ein Sorgerechtsentzug nur dann geeignet, wenn der Vormund/Jungendamt konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Situation des Kindes einleitet. Mit Beschluss vom 24.3.2014 (FamRB 2014, Seite 288) hat das BVerfG betont, dass die Instanzgerichte von Amts wegen aufzuklären haben, ob einer Gefahr für die Kinder nicht auf andere Weise als durch Trennung von den Eltern begegnet werden kann. Das Familiengericht muss in eigener Verantwortung beurteilen, ob z. B. öffentliche Hilfen erfolgversprechend sind. Damit wird den Gerichten schon eine hohe Verantwortung aufgebürdet. Weiterhin hat das BVerfG einen Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts für die Eltern abgelehnt, welcher damit begründet war, dass das Kind woanders eine bessere Förderung erhält. Nach Auffassung des BVerfG gehört es nicht zur Ausübung des Wächteramtes des Staates, gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche Förderung zu sorgen. Die primäre Entscheidungsbefugnis ist und bleibt bei den Eltern. Um eine Trennung des Kindes von den Eltern zu rechtfertigen, muss das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen und seelischen Wohl gefährdet ist. So hat das BVerfG in einem weiteren Beschluss die Unverhältnismäßigkeit des Sorgerechtsentzugs gerügt (BVerfG, FamRZ 2014, Seite 1270). Das BVerfG hat darauf hingewiesen, dass insbesondere auch die negativen Folgen einer Trennung des Kindes von den Eltern und einer Fremdunterbringung zu berücksichtigen und zu würdigen sind. Die Trennung des Kindes von seinen Eltern bleibt „das letzte Mittel“ und darf von Verfassungs wegen nur im äußersten Fall erfolgen.

Wie bereits oben erwähnt, nehmen sorgerechtliche Entscheidungen beim BVerfG einen breiten Raum ein, weitere Entscheidungen des BVerfG sind:

  • Rückführung des Kindes von Pflegeeltern zu den Eltern (BVerfG, FamRZ 2014, Seite 1266)
  • Rückführung des Kindes aus dem Waisenhaus (BVerfG, NJW 2014, Seite 2936)
  • Vormundschaftsbestellung für Großeltern oder naher Verwandter (BVerfG, NJW 2014, Seite 2853)
  • Vorrang der Großeltern bei Vormundsauswahl (BVerfG, FamRZ 2014, Seite 1841 sowie BVerfG, NZFam 2014, Seite 1043)
  • Kritische Würdigung von Gutachten (BVerfG, NJW 2015, Seite 223) zur Thematik von Sachverständigengutachten in Kindschaftssachen NZFam 2015, Seite 577 bis 623, hierunter auch Linsler, NZFam 2015, Seite 612