EGMR, Urteil vom 03.12.2009 – Gemeinsame Sorge für außerehelich geborene Kinder

In Deutschland werden Väter außerehelich geborener Kinder bei der (gemeinsamen) elterlichen Sorge diskriminiert, weil keine Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung der Alleinsorge der Mutter gem. § 1626 a II BGB besteht (gegen BVerfG, Senatsurteil vom 29.1.2003, FamRZ 2003, 285).

 

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Urteil

Gericht         : EGMR
Datum           : 03.12.2009
Aktenzeichen    : 22028/04 
Leitparagraph   : BGB §1626a, EMRK Art. 14, EMRK Art. 8
Quelle          : FamRZ 2010, S. 103
Kommentiert von : RA Georg Rixe

Inhalt:

Folgender Sachverhalt lag zugrunde:

 

Der Beschwerdeführer (Bf.) lebte mit der Mutter und ihrem 1995 außerehelich geborenen Kind zusammen. Nach ihrer Trennung im August 1998 wohnte das Kind bis Januar 2001 beim Vater. Daraufhin zog die Mutter, der die alleinige Sorge gem. § 1626 a II BGB zusteht, mit dem Kind weg. Im Juni 2001 trafen die Eltern unter Vermittlung des Jugendamts eine Umgangsvereinbarung, nach der der Bf. sein Kind rund vier Monate im Jahr sehen konnte.

 

Da die Kindesmutter nicht bereit war, eine gemeinsame Sorgeerklärung abzugeben, beantragte der Bf. die gerichtliche Übertragung des gemeinsamen Sorgerechts. Die Fachgerichte lehnten diesen Antrag unter Hinweis auf die gesetzliche Regelung des § 1626 a II BGB ab, der vom BVerfG durch Grundsatzentscheidung vom 29. 1. 2003 (ISUV-Report Nr. 96, 2/2003, S. 18 ff.) in Bezug auf Eltern, die sich nach dem 1. 7. 1998 getrennt hatten, als verfassungsgemäß angesehen worden war. Die Verfassungsbeschwerde des Bf. wies das BVerfG ohne weitere Begründung zurück.

 

 

In dem vom Verfasser geführten Beschwerdeverfahren vor dem EGMR entschied dieser durch Urteil vom 3. 12. 2009 mit einer Mehrheit von 6 : 1 Stimmen, dass Art. 14 i. V. m. Art. 8 EMRK verletzt worden ist, weil der Bf. im Verhältnis zu Müttern und geschiedenen Vätern diskriminiert worden ist. Der deutsche Ersatzrichter äußerte eine abweichende Meinung. Weiterhin erkannte der EGMR dem Bf. die geltend gemachten Kosten und Auslagen zu.

 

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Die Entscheidung des EGMR

 

Nach Auffassung des Gerichtshofs werden Väter außerehelich geborener Kinder beim Zugang zur (gemeinsamen) Sorge diskriminiert.

 

Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass der Bf. durch die Ablehnung seines Antrags auf Übertragung der gemeinsamen Sorge ohne weitere gerichtliche Einzelfallprüfung anders behandelt worden war als eine Mutter und als ein geschiedener Vater. Demgegenüber legt die gesetzliche Regelung des § 1626 a II BGB zu Grunde, dass die gemeinsame Sorge gegen den Willen der Mutter eines außerehelich geborenen Kindes generell dem Kindeswohl widerspricht. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine unterschiedliche Behandlung im Sinne von Art. 14 EMRK dann diskriminierend, wenn es für sie keine objektive und angemessene Rechtfertigung gibt. Der innerstaatliche Gestaltungsspielraum ist umso enger, je mehr sich ein europäischer Standard herausgebildet hat. Allerdings können nur sehr gewichtige Gründe eine unterschiedliche Behandlung des Vaters eines aus einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft hervorgegangenen Kindes im Vergleich zum Vater eines ehelichen Kindes rechtfertigen.

 

In vorliegenden Zusammenhang stellt der Gerichtshof weiter fest, dass § 1626 a BGB dem Schutz des Kindeswohls dient. Die Regelung soll gewährleisten, dass das Kind ab seiner Geburt eine Person hat, die als gesetzlicher Vertreter handelt, und Konflikte zwischen den Eltern über Sorgerechtsfragen zum Nachteil des Kindes vermeiden. Die Gerichtsentscheidungen verfolgten danach einen legitimen Zweck.

 

Der Gerichtshof räumt zwar ein, dass es stichhaltige Gründe geben kann, dem nicht verheirateten Vater die Beteiligung an der elterlichen Sorge zu versagen, etwa wenn eine mangelnde Kommunikation zwischen den Eltern dem Kindeswohl zu schaden droht. Diese Erwägungen gelten jedoch nicht im vorliegenden Fall, da der Bf. sich regelmäßig um sein Kind gekümmert hatte. Dennoch steht dem Bf. von vornherein keine gesetzliche Möglichkeit zur Verfügung, gerichtlich prüfen zu lassen, ob die Übertragung der gemeinsamen Sorge dem Kindeswohl dient und die möglicherweise willkürliche Verweigerung einer Sorgeerklärung gerichtlich zu ersetzen ist.

 

Der Gerichtshof teilt insoweit nicht die Einschätzung des BVerfG, dass ein gemeinsames Sorgerecht gegen den Willen der Mutter grundsätzlich dem Kindeswohl zuwider läuft. Zwar können gerichtliche Verfahren zur Regelung der elterlichen Sorge das Kind belasten~ allerdings sieht das deutsche Recht eine gerichtliche Überprüfung der Sorgerechtsfrage in Trennungsfällen vor, in denen die Eltern verheiratet sind oder waren oder eine gemeinsame Sorgeerklärung abgegeben haben. Der Gerichtshof sieht deshalb keine ausreichenden Gründe, warum in der Situation des Bf. eine geringere gerichtliche Überprüfungsmöglichkeit zugelassen werden sollte. Nach Auffassung des Gerichtshofs lag deshalb eine Verletzung von Art. 14 i. V. m. Art. 8 EMRK vor.

 

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Fazit

 

Das Urteil des EGMR, das eine große Aufmerksamkeit und einhellige Zustimmung gefunden hat, stärkt das Recht außerehelich geborener Kinder auf beide Eltern und verurteilt die langjährige Diskriminierung ihrer Väter bei der elterlichen Sorge.

 

Das BVerfG hatte in seiner Grundsatzentscheidung vom 29. 1. 2003 noch die Auffassung vertreten, dass der Gesetzgeber kein gerichtliches Verfahren zur Entscheidung über die gemeinsame Sorge im Einzelfall zur Verfügung stellen müsse, weil er davon habe ausgehen können, dass zusammenlebende Eltern regelmäßig gemeinsame Sorgeerklärungen abgeben. Soweit die Mutter dennoch die Abgabe einer solchen Erklärung verweigere, müsse davon ausgegangen werden, dass sie dafür regelmäßig schwerwiegende Gründe habe, die allein durch das Kindeswohl gerechtfertigt seien. Eine gerichtliche Einzelfallüberprüfung sei deshalb nicht notwendig, weil bei Vorliegen solcher Gründe das gemeinsame Sorgerecht dem Wohl des Kindes nicht entspreche:

 

Dieser Auffassung, der in der juristischen Literatur allgemein widersprochen worden war, erteilte der Gerichtshof eine klare Absage, da nicht generell von der Kindeswohlwidrigkeit einer gemeinsamen Sorge gegen den Willen der Mutter ausgegangen werden könne, wie auch die Regelungen für ehelich geborene Kinder zeigten. Er gelangte vor allem deshalb zu einem anderen Ergebnis als das BVerfG, weil er eine Benachteiligung von Vätern nichtehelicher Kinder nur aus besonders schwerwiegenden Gründen als gerechtfertigt ansieht und angesichts des einhelligen europäischen Standards den innerstaatlichen Beurteilungsspielraum einschränkte.

 

Hinzu kam, dass der Gesetzgeber auch dem Prüfungsauftrag des BVerfG, ob die gesetzgeberischen Annahmen auch vor der Wirklichkeit standhielten, ersichtlich nicht ausreichend nachgekommen war. Er hatte nach einer Umfrage bei Jugendämtern und Fachanwälten für Familienrecht im Sommer/Herbst 2006 erst 2008 eine sozialwissenschaftliche Untersuchung ausgeschrieben, deren Abschluss bis Herbst 2010 erwartet wird.

 

Entsprechend den Erwägungen des Urteils des Gerichtshofs ist auch die Regelung des § 1672 I BGB, die eine alleinige Sorge des Vaters von der Zustimmung der Mutter abhängig macht, als menschenrechtswidrig anzusehen.

 

Das Urteil des EGMR wird nach drei Monaten rechtskräftig, wenn keine der Parteien die Große Kammer des Gerichtshofs anruft. Dann ist die Bundesrepublik verpflichtet, unverzüglich eine gesetzliche Neuregelung zu schaffen, die die vom Gerichtshof beanstandete Diskriminierung beendet. Aus der Befolgungspflicht des Art. 46 EMRK ergibt sich nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass der verurteilte Staat auch weitere Verletzungen der Konvention in Parallelfällen verhindern muss.

 

 

Es stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten für betroffene Väter zur Erlangung des gemeinsamen oder alleinigen Sorgerechts bis zur gesetzlichen Neuregelung bestehen. Legt man die bisherige Rechtsprechung des BVerfG zu Grunde, kann der Verfassungswidrigkeit der Norm (damals entschieden für so genannte Altfälle der Trennung der Eltern vor dem 1.7.1998) nicht durch eine verfassungskonforme Auslegung von § 1666 BGB wegen Kindeswohlgefährdung Rechnung getragen werden. Das muss auch für die grundsätzlich gebotene menschenrechtskonforme Auslegung von deutschen Gesetzen gelten, die nicht weiter gehen kann als eine verfassungskonforme Auslegung. Gegebenenfalls fordert das BVerfG eine entsprechende Anwendung der bisherigen Übergangsvorschrift zum gemeinsamen Sorgerecht für Altfälle gem. Art. 224 § 2 EGBGB. Es ist allerdings davon auszugehen, dass das BVerfG diese Fragen noch in diesem Jahr auf Grund bereits zugestellter, auch vom Verfasser betreuter Verfahren, entscheiden wird, sodass für die Praxis daraufhin Klarheit besteht. Vorher erscheint es nicht sinnvoll, dass Betroffene den Weg zu den Gerichten wählen, da diese nach bisheriger Rechtsprechung die Sache allenfalls nach Art. 100 GG dem BVerfG zur Prüfung der Verfassungswidrigkeit und Menschenrechtswidrigkeit vorlegen könnten. Ob sie die Regelungen für Altfälle analog anwenden, ist völlig offen.

 

Mit Blick auf die gebotene gesetzliche Neuregelung sollte sich der Gesetzgeber aber angesichts des vom BVerfG anerkannten Rechts aller Kinder auf Pflege und Erziehung durch ihre Eltern nicht auf die im politischen Raum bisher diskutierte Minimalregelung der gerichtlichen Ersetzung der Zustimmung der Mutter beschränken, sondern sich am herrschenden Standard in Europa orientieren, nach dem die gemeinsame Sorge für außerehelich geborene Kinder automatisch ab Feststehen der Vaterschaft eintritt. Ansonsten wird Deutschland weiterhin das Schlusslicht der europäischen Entwicklung bilden. Zu den entsprechenden rechtspolitischen Forderungen von ISUV/VDU wird auf den gesonderten Beitrag in diesem Heft verwiesen.