EGMR, Urteil vom 21.12.2010 - Elterliche Sorge für außerehelich geborene Kinder

Einem nur leiblichen Vater steht ein Umgangsrecht mit seinem Kind zu, wenn dies dem Kindeswohl entspricht, selbst wenn er bisher keine Beziehung zu ihm aufbauen konnte.

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Urteil

Gericht         : EGMR
Datum           : 21.12.2011
Aktenzeichen    : 20578/07
Leitparagraph   : BGB §1685
Quelle          : -
Kommentiert von : RA Georg Rixe


Inhalt:

Folgender Sachverhalt lag zugrunde:

Der Beschwerdeführer (Bf.) ist nigerianischer Staatsbürger. Er reiste 2003 nach Deutschland ein. Sein Antrag auf Asyl wurde 2006 rechtskräftig abgelehnt. Etwa zwei Jahre lang hatte er eine Beziehung mit Frau B., die mit ihrem Ehemann drei Kinder hat. Vier Monate, nachdem sie sich vom Bf. getrennt hatte, brachte Frau B. Zwillinge zur Welt, deren biologischer Vater er ist. Frau B. zieht die Kinder, gemeinsam mit ihrem Ehemann auf, der rechtlich deren Vater ist. Das Ehepaar lehnte die Bitten des Bf. vor und nach der Geburt, ihm Umgang mit den Zwillingen zu gewähren, wiederholt ab.

Das AG räumte dem Bf. betreuten Umgang mit den Zwillingen einmal monatlich für eine Stunde ein, da er nach § 1685 Abs. 2 BGB als enge Bezugsperson ein Recht auf Umgang mit den Kindern habe. Es stützte sich auf ein psychologisches Sachverständigengutachten und befand, dass der Kontakt zwischen dem Bf. und den Zwillingen im Kindeswohlinteresse liege, da es wichtig für sie sei, ihre Herkunft zu kennen. Das OLG gab demgegenüber der Beschwerde des Ehepaars B. statt, weil der Bf. kein umgangsberechtigter Elternteil im Sinne von § 1684 BGB sei, da sich diese Regelung nur auf die Eltern im Rechtssinne beziehe. Da der Bf. keinerlei Verantwortung für die Kinder getragen und folglich keine sozial-familiäre Beziehung zu ihnen aufgebaut habe, erfülle er außerdem nicht die Voraussetzungen, um als enge Bezugsperson ein Umgangsrecht nach § 1685 Abs. 2 BGB beanspruchen zu können. Nach Auffassung des Gerichts war es daher unerheblich, ob der Kontakt zwischen dem Bf. und den Kindern ihrem Wohl diente.

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Die Entscheidung des EGMR

Nach der Rechtsprechung des EGMR kann der Wunsch, eine familiäre Beziehung aufzubauen, in den Anwendungsbereich des Schutzes des Familienlebens gemäß Artikel 8 EMRK fallen, falls es nicht dem Bf. zuzurechnen ist, dass noch kein Familienleben besteht. Dies war beim Bf. der Fall, der nur deswegen keinen Kontakt zu den Zwillingen hatte, weil deren Mutter und rechtlicher Vater seine entsprechenden Bitten abgelehnt hatten. Der Bf. hatte auch ein ernsthaftes Interesse an den Kindern gezeigt, indem er sowohl vor als auch nach deren Geburt den Wunsch nach Kontakt mit ihnen geäußert und zügig ein Umgangsverfahren eingeleitet hatte. Auch wenn er mit Frau B. nie zusammengelebt hatte, waren die Kinder aus einer nicht bloß zufälligen, sondern zwei Jahre dauernden Beziehung hervorgegangen. In jedem Fall betraf die Beziehung des Bf. zu seinen Kindern doch einen wichtigen Teil seiner Identität und folglich sein "Privatleben" im Sinne von Artikel 8.

Das OLG räumte den bestehenden Familienbindungen zwischen den Kindern und den rechtlichen Eltern Vorrang gegenüber der Beziehung eines biologischen Vaters zu seinen Kindern ein. Der EGMR erkannte an, dass diese bestehenden Bindungen gleichermaßen schutzbedürftig waren. Vor diesem Hintergrund war ein angemessener Ausgleich zwischen den konkurrierenden Interessen nach Artikel 8 EMRK notwendig. Der EGMR beanstandete deshalb, dass das OLG insbesondere nicht geprüft hatte, ob der Kontakt zwischen den Zwillingen und dem Bf. unter den besonderen Umständen des Falls im Interesse der Kinder lag. Er kam daher einstimmig zu dem Schluss, dass eine Verletzung von Artikel 8 EMRK vorlag und sprach dem Bf. ein Schmerzensgeld von 5.000,- € und Kostenerstattung zu.

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Fazit

Mit der vorliegenden Entscheidung hat der EGMR erneut die Rechte von Vätern gestärkt. Wie im Fall Zaunegger (ISUV-Report Nr. 123 S. 16~ s. auch: Willutzki, S. 4) beanstandete er, dass die väterlichen Interessen generell gegenüber denen der bestehenden sozialen Familie zurückgesetzt wurden, ohne dass dabei das Kindeswohl in den Blick genommen wurde. Der EGMR führt zutreffend aus, dass der Umgang eines nur leiblichen Vaters nicht von einer bereits bestehenden Beziehung abhängig gemacht werden kann, weil die rechtlichen Eltern diese auch aus willkürlichen Gründen verweigern können. Bedeutsam ist auch, dass der EGMR den Grund des Umgangsanspruchs des Vaters in dem Schutz seiner Persönlichkeitsentwicklung (Identität) sieht. Entsprechende Bedeutung hat der Umgang auch für die betroffenen Kinder. Mit seiner zu begrüßenden Entscheidung beanstandet der EGMR in der Sache erneut eine restriktive Rechtsprechung des BVerfG (ISUV-Report Nr. 97, S. 17), auf der die gesetzliche Regelung beruhte. Für den Regelfall wird man die Entscheidung des EGMR bereits ohne gesetzliche Neuregelung durch menschenrechtskonforme Auslegung des § 1685 II BGB umsetzen können.