Unterhaltsrecht - BGH - 18.05.2022

  1. Das mietfreie Wohnen beeinflusst nicht die Höhe des Kindesunterhalts. Die kostenfreie Zurverfügungstellung von Wohnraum wird vorrangig im unterhaltsrechtlichen Verhältnis zwischen den Eltern ausgeglichen. Ein unterhaltsrechtlicher Ausgleich kann auch darin bestehen, dass der Betreuungselternteil keinen Anspruch auf Trennungsunterhalt geltend machen kann, weil nach der Zurechnung des vollen Wohnwerts keine auszugleichende Einkommensdifferenz zwischen den Eltern mehr besteht.
  2. Die Eltern können eine – nach den Umständen des Einzelfalls gegebenenfalls auch konkludente – Vereinbarung darüber treffen, dass die Wohnungskosten durch den Naturalunterhalt des Barunterhaltspflichtigen abgedeckt werden. Für die Erfüllung des Barunterhaltsanspruchs (§ 362 BGB) aufgrund einer solchen Vereinbarung trifft den Barunterhaltsschuldner die Darlegungs- und Beweislast.
  3. Bevor die Haftungsquote für den anteiligen Mehrbedarf bestimmt wird, ist von den Erwerbseinkünften des betreuenden Elternteils der Barunterhaltsbedarf der Kinder nach den gemeinsamen Einkünften der Eltern abzüglich des hälftigen auf den Barunterhalt entfallenden Kindergelds und abzüglich des vom Kindesvater geleisteten Barunterhalts abzusetzen. In der verbleibenden Höhe leistet der betreuende Elternteil neben dem Betreuungsunterhalt restlichen Barunterhalt in Form von Naturalunterhalt. Die andere Hälfte des Kindergelds, die der betreuende Elternteil erhält, ist nicht einkommenserhöhend zu berücksichtigen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 29. September 2021 - XII ZB 474/20 - FamRZ 2021, 1965).

Beschluss:
Gericht: BGH
Datum: 18.05.2022
Aktenzeichen: XII ZB 325/20
Leitparagraph: §§ 1602, 1606, 1610 BGB
Quelle: FamRZ 2022, Seite 1366 ff.

Kommentierung:

Im Rahmen eines Abänderungsverfahrens zum Kindesunterhalt stellte sich die Frage, ob die teilweise Deckung des Unterhaltsbedarfs der Kinder mittels Gewährung von Wohnraum bei der Bemessung des Kindesunterhalts zu berücksichtigen ist oder nicht. Das OLG (OLG Frankfurt, FamRZ 2021, Seite 191) hat den Unterhaltsanspruch um eine Einkommensgruppe herabgestuft mit dem Argument, dass die Deckung des Wohnbedarfs der Kinder dadurch angemessen berücksichtigt sei. Im vorliegenden Fall hat der betreuende Elternteil (Mutter) weder Ehegattenunterhalt geltend gemacht, noch, dass der barunterhalspflichtige Elternteil (Vater) eine Nutzungsentschädigung für die Überlassung der gemeinsamen Wohnung an den betreuenden Elternteil geltend gemacht hat.

Bei der Berechnung eines Mehrbedarfs/Sonderbedarfs hat das OLG der Mutter das mietfreie Wohnen bei der Einkommensbemessung und der Ermittlung der Beteiligungsquote am Mehrbedarf/Sonderbedarf als Wohnvorteil zugerechnet.

Der BGH hat das Urteil des OLG für teilweise „fehlerhaft“ erachtet und insbesondere zu folgenden Rechtsfragen Stellung genommen:

1. Mietfreies Wohnen

Die Frage der Behandlung des Überlassens von Wohnraum an das Kind kommt nach Auffassung des BGH auch dem Kind zugute, wodurch der Barunterhaltspflichtige dadurch Naturalunterhalt leistet und somit von der Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind teilweise befreit sein kann (so BGH, FamRZ 2013, Seite 191). Auch die überwiegende Auffassung in der Literatur erkennt die Möglichkeit einer bedarfsdeckenden Wirkung. Danach ist von Bedeutung, von wem das Kind den Wohnvorteil erhält.

a) Bei Wohnungsgewährung durch den betreuenden Elternteil findet keine Anrechnung statt, weil es sich insoweit um eine Drittleistung handelt, die den Barunterhaltspflichtigen nicht entlasten soll.

b) Bei Wohnungsgewährung durch den Barunterhaltspflichtigen ist das anders, durch die Wohnungsgewährung erfolgt insoweit Teilerfüllung der Unterhaltspflicht. Wenn die Praxis in diesen Fällen eine Kürzung des Tabellensatzes um 20 % durchführt, handele es sich um eine vereinfachte Form der Anrechnung als Erfüllung.

In den allermeisten Fällen liegt jedoch der Fall so, dass dem Kind die Wohnung vom betreuenden Elternteil zur Verfügung gestellt wird und somit das kostenfreie Wohnen des Kindes nicht den Kindesunterhaltsanspruch zwischen Barunterhaltspflichtigem und Kind beeinflusst. Das gilt auch, wenn z. B. der Wohnwert bereits im Rahmen der Berechnung eines Ehegattenunterhaltes oder bei einer Nutzungsentschädigung Berücksichtigung gefunden hat und das Kind den Wohnraum vom unterhaltsberechtigten, betreuenden Elternteil (letztendlich Fall b) von oben) zur Verfügung gestellt erhält.

Der BGH führt in seiner Entscheidung aus, dass grundsätzlich das mietfreie Wohnen des Kindes die Höhe des Kindesunterhaltes nicht beeinflusst. Die kostenfreie Zurverfügungstellung von Wohnraum wird vorrangig im unterhaltsrechtlichen Verhältnis zwischen den Eltern ausgeglichen (BGH, FamRZ 2013, Seite 191). So kann ein unterhaltsrechtlicher Ausgleich auch dadurch bestehen, dass der betreuende Elternteil keinen Anspruch auf Ehegattenunterhalt geltend machen kann, weil nach der Zurechnung des vollen Wohnwerts auf seiner Seite sich rechnerisch kein Ehegattenunterhalt mehr ergibt. Auch in diesen Fällen hat sich der betreuende Elternteil den Wohnwert zurechnen lassen und eine nochmalige Berücksichtigung des Wohnwerts (anteilig) beim Kindesunterhalt ist nicht geboten.

In Leitsatz 2 hält der BGH fest, dass die Eltern auch eine interne Vereinbarung treffen können, dass die Wohnkosten anteilig durch den Naturalunterhalt des Barunterhaltspflichtigen abgedeckt werden und somit von ihm bei der Barunterhaltspflicht in Abzug gebracht werden können. Insoweit ist jedoch der Barunterhaltsschuldner darlegungs- und beweisbelastet. Allein die Miteigentümerstellung reicht hierfür nicht aus.

Auch allein die Tatsache, dass weder Trennungsunterhalt von der Frau verlangt wird, noch, dass Nutzungsentschädigung vom Mann verlangt wird, ist nicht ausreichend. Denn die Tatsache, dass kein Trennungsunterhalt gezahlt bzw. verlangt wird kann auch der Tatsache geschuldet sein, dass, wie oben schon erwähnt, der Wohnwert bei der Ehefrau bei der Einkommensbemessung zur Berechnung eines Ehegattenunterhaltes eingestellt wurde und die Thematik des Wohnvorteils somit schon „verbraucht“ ist. Eine doppelte Berücksichtigung bei der Berechnung des Ehegattenunterhaltes und der nochmaligen Berücksichtigung durch Abzug von 20 % vom Kindesunterhalt darf es nicht geben.

Der erste und zweite Leitsatz dieses Beschlusses stellen klar, dass nur unter besonderen Voraussetzungen die Zurverfügungstellung von Wohnraum durch den Barunterhaltspflichtigen beim Kindesunterhalt als Naturalunterhaltsleistung und somit als Abzugsbetrag in die Unterhaltsbemessung eingestellt werden kann und der Barunterhaltspflichtige die Darlegungs- und Beweislast dafür trägt, dass der Wohnwertvorteil nicht schon anderweitig Berücksichtigung (z. B. bei der Ehegattenunterhaltsberechnung) gefunden hat.

2. Berechnung Haftungsquote/Einkommen betreuender Elternteil

Im dritten Leitsatz beschreibt der BGH am Beispiel von Mehrbedarf und Sonderbedarf, was der Unterschied zwischen Mehrbedarf und Sonderbedarf ist. Zudem setzt der BGH seine neueste Rechtsprechung fort, dass bei der Einkommensermittlung des betreuenden Elternteils auch dessen Naturalleistungen für Kinder auf deren Barunterhalt zu berücksichtigen sind (so schon der BGH zum Elternunterhalt in BGH, FamRZ 2017, Seite 711 und zum Ehegattenunterhalt, BGH, FamRZ 2021 Seite 1965).

Zur Einordnung von zusätzlichen Bedarfsbeträgen hält er fest, dass Mehrbedarf (regelmäßig wiederkehrender Bedarf) solche Kosten sind, welche ihrer Art nach nicht in den Tabellenbedarf und mithin auch nicht in die Steigerungsbeträge bis 200 % des Mindestunterhaltes einkalkuliert sind. Hieran hat sich der betreuende Elternteil grundsätzlich im Verhältnis der Einkommensverhältnisse zu beteiligen, wobei bei der Gegenüberstellung der beiderseitigen unterhaltsrelevanten Einkünfte der Eltern bei beiden Elternteilen ein Sockelbetrag in Höhe des angemessenen Selbstbehaltes abzuziehen ist.

Einschub des Verfassers:
Bei dieser Definition von Mehrbedarf durch den BGH darf die Frage erlaubt sein, warum nach allen Leitlinien der Krankenversicherungsbedarf bei privater Krankenversicherung des Kindes (wenn das Kind nicht bei einem Elternteil familienmitversichert ist oder sein kann) dieser allein vom Barunterhaltspflichtigen zu übernehmen ist und nicht als Mehrbedarf angesehen wird. Der private Krankenversicherungsbedarf ist nicht im Tabellenbedarf der Düsseldorfer Tabelle berücksichtigt und müsste dann qua Definition des BGH Mehrbedarf sein, der quotal auf die Elternteile aufzuteilen wäre.

Den Sonderbedarf beschreibt der BGH als einen unregelmäßigen, außergewöhnlich hohen Bedarf, welcher neben dem Barunterhalt auch für die Vergangenheit verlangt werden kann. Dieser Sonderbedarf muss überraschend aufgetreten sein und der Höhe nach nicht voraussehbar.

Im Leitsatz 3 spiegelt sich dann wider, wie der BGH nach neuester Rechtsprechung die Haftungsquote zur Berechnung von Mehrbedarf/Sonderbedarf ermittelt, insbesondere, wie das unterhaltsrechtlich relevante Einkommen des betreuenden Elternteiles zu ermitteln ist.

Der BGH weist darauf hin, dass bei der Berechnung des Einkommens bei der betreuenden Mutter auch der von ihr zu tragende Naturalunterhalt für die Kinder abzuziehen ist und somit sich die Haftungsquote zugunsten der betreuenden Mutter verändert. Der BGH begründet dies damit, dass der Bedarf eines Kindes sich nach dem gemeinsamen Einkommen beider Elternteile grundsätzlich bestimmt, der Barunterhaltspflichtige aber nur zur Zahlung des Unterhalts verpflichtet ist, den er bei Berücksichtigung nur seines Einkommens zu bezahlen hat. So verbleibt häufig ein offener Bedarf des Kindes. Daher sei von den Erwerbseinkünften des betreuenden Elternteils der Barunterhaltsbedarf der Kinder nach den gemeinsamen Einkünften der Eltern abzüglich des hälftigen auf den Barunterhalt des Vaters entfallenden Kindergeldes und abzüglich des vom Vater geleisteten Barunterhalts abzusetzen.

Beispiel:
Kindesunterhalt nach zusammengezähltem Einkommen der Eltern,
15. Einkommensgruppe DT    1066,00 €,
abzüglich derzeit hälftiges Kindergeld     109,50 €,
    =    956,50 €,
abzüglich des aus dem Einkommen des Vaters alleine zu zahlenden
Unterhaltes aus der 12. Einkommensgruppe nach Abzug von hälftigem
Kindergeld, mithin     814,00 €
verbleiben Restbedarf des Kindes i.H.v.     =    142,50 €
das soll der „Naturalunterhalt“ sein, den die Mutter dann noch zu leisten hat und von ihrem unterhaltsrechtlich relevanten Einkommen abzuziehen ist und zu ihren Gunsten die Verteilungsquote von Mehrbedarf/Sonderbedarf verändert.


Diese Rechtsprechung des BGH übersieht nach diesseitiger Auffassung § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB, wonach den betreuenden Elternteil keine Barunterhaltspflicht trifft und faktisch der oben errechnete Betrag von 142,50 € den Geldbeutel des betreuenden Elternteiles nicht belastet. Nicht umsonst erfährt diese Rechtsprechung Kritik. Mag zur Minimierung des nachrangigen Elternunterhaltes, bei dem diese Argumentation aufgekommen ist (BGH, FamRZ 2017, Seite 711), dies noch hinzunehmen sein, so steht bei der Bemessung des unterhaltsrechtlich relevanten Einkommens des betreuenden Elternteiles dies eben im Widerspruch, wonach der betreuende Elternteil eben seiner Unterhaltspflicht allein durch die Betreuung nachkommt (§ 1606, Abs. 3 Satz 2 BGB). Ob diese Rechtsprechung nunmehr bei jeder Berechnung eines Ehegattenunterhaltes im Zusammenhang mit betreuenden Eltern anzuwenden ist, bleibt offen, denn im hier vorliegenden Fall geht es letztendlich nur um die Quotenermittlung für Mehr- und Sonderbedarf und beim im Leitsatz 3 zitierten Urteil um die Erfüllung eines höheren Wohnbedarfs von Kindern (ebenso kritisch Werner Schwamb in Famrb 2022, Seite 344 u. a.).

Weil das OLG insbesondere entscheidende Fragen zum Wohnwertvorteil und zur Bestimmung der jeweiligen Einsatzeinkommen beim Mehrbedarf/Sonderbedarf nicht beachtet hat und somit Feststellungen fehlen, hat der BGH das Verfahren an das OLG zurückverwiesen und dem OLG noch einige Hinweise für die weitere Sachbehandlung erteilt. So z. B. der Hinweis, dass bei Ermittlung der Unterhaltsquote keine fiktiven Einkünfte der Mutter einzustellen sind. Insbesondere weist der BGH darauf hin, dass wenn sich herausstellen sollte, dass die Mutter nicht wegen des vollen Wohnwertvorteils von der Geltendmachung eines Getrenntlebendunterhaltes abgesehen hat (und somit der Wohnwertvorteil noch nicht „verbraucht“ ist), dass dann nach der Rechtsprechung des BGH der Miteigentumsanteil des Vaters an der Wohnung zu einer teilweisen Deckung des Barbedarfs der Kinder führen wird.

Bedauerlicherweise wirft dieses Urteil viele Fragen auf und bürdet dem Unterhaltspflichtigen eine erhöhte Darlegungslast auf, indem der BGH fordert, dass letztendlich er in jedem Fall rechnerisch darlegen muss, dass der Wohnwert noch an keiner anderen Stelle bei finanziellen Ausgleichszahlungen (Unterhalt oder Nutzungsentschädigung) Berücksichtigung gefunden hat.