Unterhaltsrecht - BVerfG - 09.11.2020


Die Auferlegung unverhältnismäßiger Unterhaltspflichten verletzt die Handlungsfreiheit der Betroffenen.

Beschluss:
Gericht: BVerfG
Datum: 09.11.2020
Aktenzeichen: Az. 1 BvR 697/20
Leitparagraph: Art. 2 Abs. 1, 6 Abs. 2 GG, §§ 1603, 1609 BGB
Quelle: NZFam 2021, Seite 74

Kommentierung:

Das BVerfG hatte über eine Fall zu entscheiden, in dem die Unterhaltsschuldnerin (in dem Fall die Mutter eines minderjährigen Kindes) Einkünfte aus einer Teilzeitbeschäftigung (20 Stunden) erzielte sowie ergänzende Sozialhilfeleistungen. Zur Erfüllung ihrer gesteigerten Unterhaltspflicht gegenüber dem minderjährigen Kind wurden ihr vom OLG fiktive Einkünfte aus einer Tätigkeit von 48 Stunden in ihrem erlernten, aber seit langem nicht ausgeübten Beruf einer Floristin zugerechnet. Dies führte zur Verurteilung zur Bezahlung des Mindestunterhaltes.

Das BVerfG hält weiterhin die Zurechnung fiktiver Einkünfte als verfassungsrechtlich unbedenklich (so schon BVerfG, FamRZ 2012, Seite 1283 u. a.). Dies ergibt sich auch aus Art. 6 Abs. 2 GG, der niedergelegten Pflicht zur Pflege und Erziehung der Eltern ihrer Kinder (dies ergibt sich ebenso aus § 1603 BGB). Sollte jedoch vom Unterhaltsschuldner subjektiv oder objektiv Unmögliches verlangt werden, würde das gegen Art. 2 Abs. 1 GG verstoßen. Die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners muss gegeben sein, um das bei fiktiver Zurechnung von Einkünften beurteilen zu können, sind die Entscheidungsgrundlagen in einem Urteil/Beschluss offenzulegen. Das sieht das BVerfG in der zugrundeliegenden OLG-Entscheidung als verletzt an.

Die Zurechnung fiktiver Einkünfte setzt voraus, dass subjektive Erwerbsbemühungen des Unterhaltsschuldners fehlen. Danach muss ein arbeitsloser Unterhaltsschuldner sich intensiv um Arbeit bemühen. Dazu reicht nicht die Stellensuche beim Jobcenter, sondern auch Eigeninitiative ist notwendig (über Vermittlungsagenturen etc.). Notfalls muss eine Tätigkeit angenommen werden, die außerhalb des erlernten Berufs ist, bis hin zu Aushilfs- und Gelegenheitsarbeiten. Fiktive Einkünfte sind jedoch nur dann zuzurechnen, wenn solche Einkünfte objektiv erzielbar sind. Um die reale Beschäftigungschance zu beurteilen, sind die persönlichen Umstände des Schuldners zu berücksichtigen, das sind Alter, berufliche Qualifikation, Gesundheitszustand sowie objektiv das Vorhandensein entsprechender Arbeitsstellen. Beweispflichtig ist der Unterhaltsschuldner (BGH, FamRZ 2017, Seite 109).

Legt der Unterhaltsschuldner dies alles dar, haben die Gerichte im Einzelnen darzulegen, welches unterhaltsrechtliche Einkommen der Unterhaltsschuldner erzielen muss/kann, um den Unterhalt aufbringen zu können. Dazu muss das Gericht feststellen, welches Brutto-/Nettoeinkommen hierfür notwendig wäre. Am Ende dieser Berechnungen hat ein konkreter Einkommensbetrag zu stehen, der dann zur weiteren Prüfung führt, ob dann dieses Einkommen nach den persönlichen Voraussetzungen des Schuldners und den objektiven Gegebenheiten am Arbeitsmarkt erzielbar ist. Hier reichen bloße Behauptungen zum Vorhandensein entsprechender Arbeitsstellen nicht aus. Die Gerichte müssen Erkundigungen bei den Jobcentern einholen und die in der Region erzielbaren Einkommen über das Internet ermitteln. Eine unzureichende Arbeitssuche ist nur bei festgestelltem Fehlen einer realen Beschäftigungschance aufgrund schlechter Arbeitsmarktlage (z. B. wegen COVID-19-Pandemie) oder subjektiver Hemmnisse (z. B. fehlende Qualifikation, Krankheit etc.) unschädlich, im Normalfall ist eine ausreichende Arbeitssuche vom Unterhaltsschuldner darzulegen. Das BVerfG moniert im vorliegenden Fall, dass das OLG die Aussage, die Unterhaltsschuldnerin könne 48 Stunden pro Woche als Floristin arbeiten, unreflektiert in der Entscheidung niedergelegt hat ohne dies ausreichend begründet zu haben.

Die Instanzgerichte neigen dazu, sehr schnell fiktive Einkünfte anzunehmen, dem schiebt das BVerfG einen Riegel vor und verlangt eine intensive Begründung. Richtschnur kann dabei sein der gesetzliche Mindestlohn, aber auch der ist aufgrund subjektiver Umstände (Krankheit etc.) zu hinterfragen.

Weil das OLG keine tragfähigen Feststellungen hierzu beinhaltet, ist es nicht ausgeschlossen, dass bei einer gebotenen umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalles eine Festlegung von Kindesunterhalt zumindest in der beschlossenen Höhe nicht geboten gewesen wäre. Da das BVerfG einen Eingriff in das Grundrecht sieht, wenn unverhältnismäßige Unterhaltspflichten auferlegt werden, haben zukünftig die Gerichte sehr detailliert ihre Entscheidung hinsichtlich der Zurechnung fiktiver Einkünfte zu begründen. Ob dadurch die Zurechnung fiktiver Einkünfte zukünftig „weniger“ werden, bleibt zu bezweifeln, da in jedem Einzelfall letztendlich der Begründungsnotwendigkeit des BVerfG Rechnung getragen werden kann und auch wird, eben mit einem etwas höheren Begründungsaufwand der Gerichte verbunden.